Berlin. Die Behörden hätten das Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz verhindern und damit Leben retten können – Fehler und Folgen

Er beschäftigte rund 50 Behörden, wurde observiert und abgehört und stand bei den deutschen Sicherheitsbehörden sieben Mal auf der Tagesordnung. Dennoch konnte Anis Amri vor einem Jahr, am 19. Dezember 2016, den schwersten islamistischen Terrorakt in der Geschichte der Bundesrepublik verüben. Nach dem Anschlag wurden immer neue Versäumnisse der Sicherheitsbehörden bekannt. Reporter der Berliner Morgenpost und des Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) haben das Staatsversagen rekonstruiert. Ein Überblick über die zehn schwersten Fehler:

1Chaos bei Amris
Einreise nach Deutschland

Juli 2015: Nach seiner Ankunft in Deutschland wird Amri in Freiburg als Asylsuchender registriert – und müsste direkt abgeschoben werden. Denn nachdem er in Italien ein Flüchtlingsheim angezündet hat, notieren die dortigen Behörden, dass ihm „die Einreise in das Schengener Gebiet oder der Aufenthalt dort zu verweigern ist“. In Freiburg gibt er sich den Namen „Anis Amir“. Die Behörden bemerken das nicht. Seine Fingerabdrücke können sie nicht finden – die Italiener haben sie nicht in der Datenbank Eurodac abgespeichert.

Als Konsequenz daraus verfügen die Ämter heute über angeblich funktionierende Systeme zur elektronischen Erfassung und zum Abgleich von Fingerabdrücken. Informationen sollen gebündelt werden.

2Ein V-Mann als Anstifter
für den Anschlag?

In Deutschland verkehrt Amri ab November 2015 in der damals wohl radikalsten deutschen Dschihadisten-Zelle. Auch ein Mann, der sich Murat nennt, wird ein enger Vertrauter. Murat ist V-Mann des LKA NRW. Er liefert nicht nur Informationen an die Behörden, sondern stachelt auch zu Anschlägen an – sogar zu solchen mit Lkw.

Trotz einer Anzeige wird kein Ermittlungsverfahren eingeleitet.



3Keine Auswertung
von Amris Handy

Seit Ende 2015 hat das LKA in NRW Amri als Gefährder eingestuft. Als er am 18. Februar mit dem Flixbus nach Berlin fährt, bittet NRW die Kollegen aus Berlin, Amri zu observieren. Doch die Berliner haben zu wenig Personal. Die Beamten kontrollieren ihn und beschlagnahmen ein gestohlenes Handy. Aber sie lassen sich die Chance entgehen, die privaten Chats und Fotos darauf zu durchsuchen. Ihnen entgeht, dass Amri auf einem Foto mit einer Waffe posiert – und damit die Chance, Amri wegen illegalen Waffenbesitzes zu belangen.

Der NRW-Innenminister Herbert Reul wurde durch eine Recherche der Berliner Morgenpost auf das Versäumnis aufmerksam – und machte den Fall öffentlich. Die Berliner Polizei versuchte sich mit Verweis auf rechtliche Probleme herauszureden.



4Kein Durchgreifen
gegen Moschee

Ab Ende Februar 2016 hält sich Amri vor allem in Berlin auf. Sein wichtigster Stützpunkt wird die Fussilet-Moschee in Moabit, die als Dschihadisten-Treff gilt. Die Behörden lassen sie unbehelligt – der zuständige Jurist ist dauerkrank, und der damalige Innensenator Frank Henkel (CDU) will vor einem Verbot erst das Urteil in einem Verfahren gegen Vorstände der IS-Moschee abwarten. Die Polizei installiert für Amris Observation laut eigener Aussage am 19. Februar 2016 zwar eine Kamera gegenüber der Moschee, doch wertet die Aufnahmen selten aus.

Verboten wird die Fussilet-Moschee erst nach dem Anschlag im Februar 2017. Die einstigen Stammbesucher der Moschee treffen sich heute in wechselnden Gebetsstätten und Privatwohnungen.

5Schlamperei um Amris
Abschiebung

Am 30. Mai 2016 lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Amris Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ ab. Am 11. Juni wird der Bescheid rechtskräftig. Amri könnte abgeschoben werden. Doch Tunesien verlangt Abdrücke der gesamten Handflächen, die Ausländerbehörde findet diese nicht, obwohl sie in einer Da-tenbank der Polizeibehörden schlummern. Doch kommt kein Beamter auf die Idee, die Dateien der Ausländerbehörde zur Verfügung zu stellen. Die Chance zur Abschiebung verstreicht.

Bis heute wurden die Strukturen trotzdem nicht grundlegend verändert.



6Polizei stellt
Observation ein

Nach Hinweisen aus NRW wird der Sicherheitsapparat hochgefahren. Die Berliner Generalstaatsanwaltschaft leitet im März 2016 ein Ermittlungsverfahren gegen Amri wegen Terrorverdachts ein und erwirkt Beschlüsse zur Überwachung seiner Telekommunikation und zur Observation. Doch die Berliner Polizei observiert fast nur tagsüber und nur an Werktagen. Am 15. Juni 2016 stellt die Polizei die Observation ganz ein, obwohl ein Gericht die Fortführung genehmigt hat und obwohl Amri mit IS-Anhängern verkehrt.

Heute hat die Berliner Polizei zusätzliche Mitarbeiter zugesprochen bekommen. Der Abschlussbericht in dieser Sache wird für Januar 2018 erwartet.

7Amri wird aus der Haft
freigelassen

Bei Amris Ausreiseversuch in die Schweiz am 30. Juli 2016 findet die Polizei bei der Kontrolle im Flixbus zwei gefälschte Pässe – Grund für einen Haft- befehl wegen Urkundenfälschung. Doch die Polizeibehörden in Berlin und NRW informieren den Staatsanwalt in Ravensburg nicht, wie gefährlich Amri ist. Der Jurist behandelt den Fall daher ohne Nachdruck und beantragt keine Untersuchungshaft. Nach einer Nacht Abschiebehaft kommt Amri wieder frei.

Die verpasste Chance zeigt also strukturelle Schwachstellen des Föderalismus. Besserung ist nicht in Sicht.

8Amri dealt – die Polizei
schaut weg

Der Terrorverdacht lässt sich durch Observation und die Überwachung seines Telefons nicht erhärten. Der zuständige Staatsanwalt weist die Polizei Ende August 2016 an, Amri wegen seines zunehmenden Drogenhandels ins Visier zu nehmen. Doch die Berliner Polizei verfasst erst am 20. Oktober eine Anzeige, die Behörde weiß aber seit Mai von Amris Dealerei. Nach dem Anschlag versucht ein Beamter mutmaßlich, die Untätigkeit durch eine Manipulation der Akten zu verschleiern.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt deshalb noch heute gegen zwei Beamte.



9Einstellung jeglicher
Überwachung

Am 21. September 2016 beenden die Berliner Beamten auch die laufende Überwachung der Telefone. Ende Oktober ignorieren die Berliner sogar eine Warnung des marokkanischen Geheimdienstes, dass Amri ein „Projekt“ plane. Begründung für die Beendigung aller Maßnahmen: Amri habe sich nicht wie ein Islamist verhalten (Stichwort Drogenhandel). Dass auch die Attentäter von Paris und Nizza Kleinkriminelle waren, wissen die Experten nicht. Die Berliner Polizei ignoriert auch Rückfragen des LKA NRW, wo Amri sich aufhalte.

Immerhin: Inzwischen gibt es nun bundesweit einheitliche Standards zur Einschätzung von Gefährdern.


10Nach Anschlag
keine Fahndung

Das Chaos bei der Berliner Polizei setzt sich laut einem polizeiinternen Bericht am Tag des Anschlags fort. Der folgenschwerste Fehler: Die Polizei leitet die Fahndung nach dem flüchtigen Fahrer des Todes-Lkw erst nach etlichen Stunden ein. Amri spaziert mit Pistole unbehelligt durch die Stadt – und startet seine Flucht quer durch Westeuropa.

Die Autoren des Polizeiberichtes analysieren die Fehler zunächst schonungslos. Die Polizeiführung verzichtet aber über Monate darauf, die Analyse zu veröffentlichen. Später wird der Bericht geglättet. Nun sollen Einsatzkonzepte aktualisiert und Übungen durchgeführt werden.