Berlin.

Im Schutz des Kirchturms findet die junge Frau eine Zeit der Ruhe nach ihrer Odyssee quer durch die Welt, die nun schon mehr als zehn Jahre dauert. Amina ist 27 Jahre alt. Ihr Name ist geändert, ihre Geschichte echt. Von Somalia floh sie über Ägypten, den Sudan und Libyen nach Italien. Vor dort reiste sie weiter nach Norwegen. Sechs Jahre lebte sie im Norden – dann schickten ihr die Behörden die endgültige Ablehnung ihres Asylantrages. Die Polizei wollte Amina abschieben. Aus Angst floh sie nach Dänemark. Doch sie wurde erwischt, landete im Gefängnis. Die dänische Justiz schiebt sie ab, zurück nach Norwegen. Wieder versuchte Amina unterzutauchen, diesmal nach Deutschland. Eine Biografie in einer Welt mit mehr als 60 Millionen Vertriebenen.

Nun lebt Amina in einer Kirche in Deutschland. Doch auch die deutschen Behörden sagen, sie müsse nach Norwegen. Nach deutschem und europäischem Recht ist das skandinavische Land zuständig – dort wurde sie als Asylbewerberin abgelehnt. Von dort aus soll sie zurück in ihre Heimat Somalia. Doch die Kirche steht im Weg. Sie schützt Amina vor dem Zugriff des Staates. Zu Recht?

Amina ist ein Fall von vielen. Die Pastorin Dietlind Jochims schildert ihre Geschichte in einem Offenen Brief an die Innenminister. Jochims ist Flüchtlingsbeauftragte der Nordkirche und Vorsitzende der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ (BAG). Der Streit zwischen einigen Unionspolitikern und der BAG wächst. Dabei geht es um Missstände der Asylpolitik. Aber auch um die Frage: Wie viel Sonderrechte darf die Kirche haben?

Die Kirche als letzte Chance für ein Bleiberecht

Menschen suchen in der Kirche Schutz, wenn sie unmittelbar abgeschoben werden sollen. Häufig kommen sie aus Staaten mit einer niedrigen Asyl-Anerkennungsquote. So kamen 2015 im Hamburger Michel 40 Roma aus Serbien, Mazedonien, Bosnien und dem Kosovo unter. Oft sind es auch Familien, für die Reise und Neuanfang in einem anderen Staat oft besonders hart sind. Kirchen sollen einen letzten Schutz vor Abschiebung bieten, begrenzt auf Zeit, damit Anträge auf Asyl noch einmal von den Behörden geprüft werden. Doch manche Politiker sagen nun: Die Kirche missbraucht ihren Sonderstatus.

An diesem Donnerstag treffen sich die Innenminister der Bundesländer zu ihrer Konferenz in Leipzig. Auf der Tagesordnung stehen 39 Themen. Top 4: Kirchenasyl. Der Innenminister von Schleswig-Holstein, Hans-Joachim Grote (CDU), setzte die Debatte auf die Agenda. Der Grund: Die Zahl der Menschen, die Kirchenasyl genießen, ist deutlich angestiegen. Nach Ansicht mancher Innenpolitiker unterwandern die Gemeinden zunehmend das Asylrecht, indem sie Menschen Schutz gewähren, die laut EU-Gesetzen nicht hier, sondern in einem anderen europäischen Staat ein Asylverfahren laufen, abgeschlossen oder begonnen haben: Fälle wie Amina, die Dublin-Fälle, benannt nach der EU-Verordnung, laut derer Asylsuchende in dem Land registriert und versorgt werden müssen, wo sie zuerst EU-Boden betreten haben. Und dort muss das Asylverfahren laufen.

Auch im Bundesinnenministerium (BMI) ist man verärgert. „In den vergangenen Jahren ist der Schutz vor staatlichem Zugriff durch viele Kirchen missbraucht worden“, sagt der Parlamentarische Staatssekretär Günter Krings (CDU) dieser Redaktion. Sein Tenor: Das Kirchenasyl hebele das europäische Dublin-Verfahren zunehmend aus.

Laut der Kirchen-BAG waren Mitte November 531 Menschen asylsuchend in Gemeinden untergebracht. Davon 127 Kinder – und 305 Dublin-Fälle. 2016 lebten 692 Asylsuchende in einer Kirche, 632 waren Dublin-Fälle. 2015 waren es 620 Fälle, 567 davon „Dublin“. Mit der großen Fluchtkrise in Europa sind die Zahlen deutlich angestiegen. Zum Vergleich: 2013 suchten nur 79 Menschen Schutz in einer Kirche, 2012 nur 50.

Jetzt rückt diese Institution in die Kritik. „Wir sehen das Kirchenasyl unter großem Druck“, sagt Pastorin Jochims von der ökumenischen BAG. Im Extremfall komme es zu Strafanzeigen oder angedrohten Räumungen. Jochims rechtfertigt die gestiegene Zahl der Menschen im Kirchenasyl mit der „restriktiver werdenden Asylpolitik“ und „eklatanten Mängeln“ im Umgang mit Flüchtlingen. Zu Unrecht werde der Kirche Missbrauch des Asylrechts vorgeworfen, heißt es in dem Brief an die Minister.

Im Bundesinnenministerium sieht man das anders. Zwar hebt Staatssekretär Krings hervor, dass das Kirchenasyl „kein anerkanntes Rechtsinstitut“ sei, aber „zu Recht in besonderen Einzelfällen seit Langem geduldet“. Nur geht es noch um einzelne Schicksale in Not? Der Vorwurf: Die Kirche macht selbst Politik gegen das EU-Asylrecht. Noch etwas falle auf, sagt Krings. Die Kirchen würden die Menschen aus den Gemeinden lassen, sobald die Frist von sechs Monaten für eine Dublin-Überstellung nach Italien, Niederlande oder Griechenland abgelaufen sei. Dann muss ihr Antrag auf Asyl in Deutschland entschieden werden, sie dürfen vorerst bleiben. Allerdings in Verantwortung der Behörden.

Oder geben eben diese Behörden den Druck nur an die Kirchen weiter? Seitdem die Zahl der Asylsuchenden stark angestiegen ist, wächst in Teilen der Bevölkerung die Erwartung an Politik, Polizei und Ausländerbehörden schneller abzuschieben und die Zuwanderung zu begrenzen. Jedoch sind die Fälle von Kirchenasyl nur ein kleiner Aspekt. Das zeigen die Zahlen: Ende September 2017 waren 114.496 Menschen in Deutschland ausreisepflichtig (bei rund 500 Schutzsuchenden in Kirchen). Fast drei Viertel der Ausreisepflichtigen sind allerdings vorerst hier geduldet, da sie aufgrund von Krankheit nicht reisen können, ihnen die Papiere zur Ausreise vom Heimatland nicht ausgestellt werden oder ihnen dort Folter oder Todesstrafe droht.

Die meisten Flüchtlinge im Kirchenasyl sollen nicht nach Afghanistan oder Somalia abgeschoben werden, sondern nur in ein anderes EU-Land. Doch auch diese europäische Dublin-Regel ist umstritten. Hilfsorganisationen und die Kirchen selbst kritisieren „skandalöse Aufnahmebedingungen“ und mangelnde rechtsstaatliche Verfahren in Griechenland, Ungarn oder Bulgarien. So klagten Syrer, Iraker oder Afghanen mehrfach erfolgreich gegen eine Dublin-Überstellung. Kritik an dem Verfahren kommt auch aus Staaten wie Italien oder Griechenland. Aufgrund der „Dublin-Regelung“ tragen sie die Verantwortung für fast alle Asylverfahren – schließlich trifft ein Flüchtling nur in Ausnahmen als erstes in Deutschland auf EU-Gebiet. Fast alle landen an der EU-Küste.

Für die Kirchen geht es um Werte wie Nächstenliebe und Humanität. Für die deutschen Behörden darum, auch umstrittene Rechtsordnungen durchzusetzen. Ein Konflikt der schon 2015 eskalierte. Damals reagierte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf die steigenden Zahlen von Kirchenasylen damit, diese Menschen als „untergetaucht“ zu registrieren. Damit wuchs der Druck auf die Kirchen.

Schon 2015 trafen sich Vertreter der Glaubensgemeinden mit den Beamten vom BAMF. Sie verabredeten bessere Zusammenarbeit: Droht einem Flüchtling im Kirchenasyl eine Abschiebung, fertigt die Gemeinde ein Dossier an, damit das BAMF einen solchen Härtefall prüfen kann. Die Testphase zeigte: In vielen Fällen übernahm das BAMF etliche „Dublin-Fälle“ nach Deutschland.

Doch das Misstrauen scheint geblieben. Nun führt das BAMF selbst Statistik über das Kirchenasyl. Demnach waren von Januar bis September 1126 Menschen gemeldet – ein Wert, der offenbar klar über den Angaben der Kirche liegt. In den deutschen Behörden vermutet man zudem eine hohe Dunkelziffer. Viele Fälle von Kirchenasyl würden nicht gemeldet, beklagen manche Beamte nach Information dieser Redaktion. Weil man das Instrument aber für wichtig halte, wolle man erneut für die Kooperation der Kirchen mit dem BAMF werben, sagt Schleswig-Holsteins Innenminister Grote nun. Jetzt, wo viel weniger Asylbewerber ankommen, sollen sich auch Staat und Kirche wieder besser verstehen.