Tunis.

Das Blutbad der Terroristen war mit teuflischer Präzision geplant. Scheich Mohamed Abdel Fattah hatte gerade mit seiner Freitagspredigt begonnen, als draußen vor der Al-Rawdah-Moschee fünf Geländewagen mit 25 bis 30 Bewaffneten vorfuhren, die das Gebäude umzingelten und das Feuer mit Handgranaten und Sturmgewehren eröffneten. Knapp eine halbe Stunde dauerte das Massaker an den männlichen Betenden, dann lagen 305 Menschen tot auf dem Boden, darunter 27 Kinder. 128 wurden nach Angaben von Generalstaatsanwalt Nabil Sadeq verletzt, nicht ein Einziger entkam unversehrt. Für Ägypten könnte das den Beginn einer Terrorepoche bedeuten, wie man sie zuvor schon im Irak erleben musste.

Bir al-Abed liegt auf dem Nordsinai, ein Städtchen mit 6000 Einwohnern, dessen wichtigster Arbeitgeber eine Salzfabrik ist. Aufgebracht schwor Präsident Abdel Fattah al-Sisi in einer Fernsehrede, Armee und Polizei würden die „Märtyrer rächen“ und „mit brutalster Härte“ zurückschlagen. Viele Muslime in Bir al-Abed sind Anhänger des Sufismus, einer Strömung des Islam, die ekstatische Tänze, mystische Gotteserfahrungen und die Verehrung frommer Meister kennt. Nach Angaben der Bewohner erschienen eine Woche vor dem Attentat Dschihadisten in dem Ort und forderten die Bewohner auf, die Sufi-Praxis zu beenden und ihr Zentrum zu schließen, welches direkt gegenüber der Al-Rawdah-Moschee liegt.

Das bisher schwerste Terror-Massaker in der Geschichte Ägyptens trägt die Handschrift des „Islamischen Staates“, obwohl sich bisher niemand zu der Mordtat bekannte. Seit vier Jahren liefern sich Ägyptens Streitkräfte im Nordsinai, wo 420.000 Menschen leben, einen erbarmungslosen Krieg mit den Dschihadisten, der die Zivilbevölkerung nicht schont und immer mehr Leute in die Arme der Radikalen treibt. Nach Angaben israelischer Militärexperten meldete die ägyptische Seite seit Beginn der Kämpfe 2013 mehr als 6000 erschossene Terroristen, obwohl westliche Experten die Zahl der IS-Mitglieder auf 1000, höchstens 1500 schätzen. Wer die vielen anderen Toten sind, ist unklar, auch weil keine ausländischen Beobachter in das Kampfgebiet dürfen.

Einige ägyptische Generäle schlagen vor, den gesamten Nordsinai zu evakuieren, um der Terroristen Herr zu werden. Und so wirkten die von Präsident Sisi angeordneten Luftangriffe auf die Umgebung von Bir al-Abed wie eine verzweifelte Machtdemonstration in einem Konflikt, den seine Sicherheitskräfte nicht unter Kontrolle bekommen. „Wo war die Armee?“, fragte einer der Überlebenden, der 18 Verwandte bei dem Massaker verlor. „Sie ist nur wenige Kilometer weg. Dies ist die Frage, auf die wir keine Antwort haben.“