Tunis.

Horror und Entsetzen erschüttern Ägypten. Bei dem schlimmsten Terroranschlag auf Zivilisten in der modernen Geschichte des Landes wurden am Freitag in der Al-Rawdah-Moschee im Städtchen Bir al-Abed im Nordsinai mindestens 235 Betende getötet und mehr als 140 verletzt. Wie es aus Sicherheitskreisen hieß, legten Angreifer zunächst mehrere Sprengsätze rund um die Moschee, die sich rund 40 Kilometer westlich der Provinzhauptstadt Al-Arisch befindet. Als die Gläubigen nach dem Freitagsgebet herauskamen, hätten sie den Sprengstoff gezündet. Anschließend hätten sie auf Flüchtende geschossen, hieß es weiter.

Auf Bildern, die direkt nach dem Anschlag in den sozialen Netzwerken geteilt wurden, sind zahlreiche Körper zu sehen, die im Innern der Moschee auf dem Boden liegen und teilweise mit Decken oder Kleidungsstücken abgedeckt sind. Der grüne Teppichboden des Gotteshauses ist voller Blutflecken. Auf anderen Fotos werden Menschen in Krankenwagen und auf der offenen Ladefläche von Autos weggefahren. Bis zum späten Abend hatte sich niemand zu dem Anschlag bekannt.

Regierung kämpft mit bis zu 25.000 Soldaten gegen IS

Ägypten führt seit vier Jahren auf dem Nordsinai einen immer brutaleren Krieg gegen den örtlichen Ableger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Bereits mehrere Hundert Soldaten und Polizisten wurden dabei getötet. Medien und internationalen Beobachtern ist die Fahrt dorthin verboten. Präsident Abdel Fattah al-Sisi beschwört regelmäßig nach Attentaten, „den Terrorismus auf dem Sinai komplett auszurotten“. Erst kürzlich erklärte er vor Offizieren, auf der Halbinsel seien bis zu 25.000 Soldaten im Einsatz – mehr als im Sechs-Tage-Krieg 1967 gegen Israel.

Bisher griffen die Extremisten in der Regel Einheiten von Armee oder Polizei an. Auch Personen, die sie verdächtigten, mit den Sicherheitskräften zu kooperieren, wurden Opfer von Anschlägen. Der Süden des Sinai, wo die Badeorte an der Küste des Roten Meeres und des Golfs von Akaba liegen, blieb bisher von Attentaten weitgehend verschont. Im Oktober 2015 gelang es jedoch einem IS-Komplizen, auf dem Rollfeld des Flughafens von Sharm el-Sheikh eine Bombe an Bord einer russischen Chartermaschine zu schmuggeln. Der Ferienflieger explodierte etwa eine halbe Stunde nach dem Start. 229 Menschen starben.

Anschläge auf Gotteshäuser in Ägypten richteten sich bisher nur selten gegen Moscheen, sondern meist gegen Kirchen der christlich-koptischen Minderheit. Im April rissen zwei Selbstmordattentäter an Palmsonntag in Tanta und Alexandria 45 Kirchgänger mit in den Tod und verletzten 126. Der Anschlag auf die St.-Markus-Kathedrale in Alexandria galt offenbar dem koptischen Papst Tawadros II., der die Bischofskirche jedoch kurz zuvor verlassen hatte. Im Dezember 2016 sprengte sich ein Attentäter in der St.-Peter-und-Paul-Kirche im Zentrum von Kairo in die Luft, die direkt neben der koptischen Papst-Kathedrale liegt. Damals starben 29 Gläubige. Bei diesen drei Attentaten auf Kirchen bezichtigte sich der IS als Urheber.

lslamisten sind zunehmendin Gefängnissen aktiv

Die am Freitag attackierte Al-Rawdah-Moschee auf dem Nordsinai ist nach Angaben örtlicher Stammesführer ein Zentrum der islamischen Strömung des Sufismus. Zur Glaubenspraxis der Sufis gehören auch ekstatische Tänze sowie die Verehrung frommer Vorbilder. Anhänger des IS dagegen, die einen puritanisch-salafistischen Islam befolgen, betrachten diese der Mystik zuneigenden Muslime als Ketzer.

Vor einem Jahr enthaupteten IS-Fanatiker auf dem Nordsinai vor laufender Kamera einen älteren Sufi-Kleriker, den sie beschuldigen, er praktiziere Magie und Hexenkult. Andere Sufi-Anhänger kamen unversehrt frei, nachdem sie – umringt von bewaffneten Dschihadisten – ihrem angeblichen Unglauben abgeschworen hatten.

Im vergangenen Mai veröffentlichte die IS-Publikation Al-Nabaa ein Interview mit einem Unbekannten, der sich als der neue Ägypten-Chef der sogenannten Soldaten des Kalifates ausgab. Nach seinen Aussagen existieren inzwischen zwei voneinander unabhängige IS-Filialen auf ägyptischen Territorium. Eine operiert als „Provinz Sinai“ im Norden der Halbinsel, die andere vom Nordsinai aus in den übrigen Teilen des Landes.

Erst vor vier Wochen lockten Extremisten einen Konvoi von Anti-Terror-Spezialisten auf der Straße zwischen Kairo und der Oase Bahariyya in einen Hinterhalt und töteten 16 Beamte. Nach Aussagen von entlassenen Häftlingen wird der IS auch in ägyptischen Gefängnissen zunehmend aktiv. Die Islamisten versuchten, unter den 60.000 politischen Gefangenen des Regimes von General al-Sisi neue Anhänger zu rekrutieren.