Berlin.

Johann Saathoff muss keine Neuwahl fürchten. Der SPD-Bundestagsabgeordnete aus Emden hat seinen Wahlkreis mit fast 50 Prozent der Erststimmen gewonnen – das beste Ergebnis eines Sozialdemokraten bundesweit. „Ich finde, dass wir jetzt Verantwortung haben, darüber nachzudenken, was wirklich gut ist fürs Land“, rät der Niedersachse seinen Parteifreunden in Berlin. Es gebe für die SPD mehrere Möglichkeiten, aber: „Es hilft uns nicht, wenn wir für eine Minderheitsregierung sind und andere das nicht wollen.“

Etwas Pause zum Nachdenken kann die SPD gut gebrauchen. Sie muss überlegen, wie sie nach dem Jamaika-Knall mit der neuen Situation umgeht. Welche politischen Optionen sie hat, mit welchem Personal sie weitermacht. Das alles bespricht die Parteispitze am Donnerstagabend im Willy-Brandt-Haus.

Es ist ein Krisengipfel. Seinen Ursprung hat er in dem strikten Nein zu einer großen Koalition, das Parteichef Martin Schulz seit dem miesen 20-Prozent-Ergebnis bei der Bundestagswahl mehrfach erneuert hat. Noch am Montag hat er den Parteivorstand einen Beschluss fassen lassen: gegen eine große Koalition und für eine Neuwahl. Die Bundestagsfraktion hat Schulz danach spüren lassen, dass sie wenig davon hält.

Immer mehr Sozialdemokraten melden sich zu Wort, die doch lieber eine große Koalition hätten oder zumindest die Tolerierung einer CDU-Minderheitsregierung. Die Partei ist aufgewühlt, der Prozess der Selbstfindung in der Opposition, den Schulz auf ein Jahr veranschlagt hatte, muss im Hauruckverfahren stattfinden. Die Frage ist, wann und wie Schulz die Kurve kriegt und ob er sich überhaupt im Amt halten kann. „Es ist unstrittig, dass die Partei Führung braucht“, heißt es aus Parteikreisen. Übersetzt bedeutet das: Schulz führt nicht. Noch aber hat der Rheinländer durchaus Rückhalt: Wie eine Umfrage des Instituts Kantar Emnid im Auftrag dieser Zeitung zeigt, wollen 70 Prozent der SPD-Anhänger ihn als Parteivorsitzenden behalten, nur 25 Prozent sind für einen Wechsel an der Spitze. Unter allen Bürgern wünscht sich immerhin noch fast die Hälfte (49 Prozent) der Befragten, dass Schulz SPD-Chef bleibt. 36 Prozent sind dagegen.

Doch ob das hilft? Mit sichtbar schlechter Laune kommen die Mitglieder der Parteispitze am Donnerstag um kurz vor 17.00 Uhr ins Willy-Brandt-Haus: „Wir werden alles beraten und sehen, was dabei herauskommt“, sagt Parteivize Thorsten Schäfer-Gümbel. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer ergänzt: „Wir werden aufrichtig und ehrlich miteinander diskutieren.“ Parteivize Ralf Stegner, sonst nie um ein Wort verlegen, murmelt nur: „Wir reden, wie es weitergeht.“ Mit einem kurzen „Ich weiß nichts“, geht Fraktionschefin Andrea Nahles an den Fernsehkameras vorbei.

Martin Schulz ist nicht zu sehen. Er lässt sich um 16.22 Uhr direkt in die Tiefgarage der Parteizentrale fahren. Um 15.00 war er mit dem Bundespräsidenten zum Vier-Augen-Gespräch verabredet. Frank-Walter Steinmeier dürfte versucht haben, Schulz von seinen Neuwahlplänen abzubringen und das strikte Nein zu einer großen Koalition zu lockern. Mit welchem Ergebnis, das wird am heutigen Freitag beim Juso-Kongress in Saarbrücken zu besichtigen sein. Die Rede vor dem Parteinachwuchs ist die erste Gelegenheit für Schulz, um seiner Partei zu erklären, wohin er sie jetzt führen will – und ob es ihm gelingt, sie dabei mitzunehmen. Es wird die Generalprobe für den großen SPD-Bundesparteitag in zwei Wochen.

Aus Parteikreisen heißt es, die SPD werde nun beginnen, mit der Union zu sprechen. Quasi als Lockerungsübung auf dem Weg in eine mögliche neue große Koalition diskutieren Teile der Partei schon, ob man eine Unions-Minderheitsregierung tolerieren solle. Führende CDU-Politiker locken den alten Koalitionspartner bereits damit. Der nordrhein-westfälische SPD-Landeschef Michael Groschek ist einer der Sozialdemokraten, die sich das vorstellen können, er nennt das einen „Stabilitätspakt“. SPD-Ministerpräsidenten wie Stephan Weil aus Niedersachsen oder Olaf Scholz aus Hamburg dagegen lehnen das entschieden ab: „Aus meiner Sicht ist das etwas, womit man sich sehr, sehr schwertun sollte“, sagte Scholz in der ZDF-Talkshow „Markus Lanz“. Europa brauche eine stabile Regierung in Deutschland, „bei der man sich nicht Sorgen darüber machen muss, was in drei, sechs oder acht Monaten ist.“

Der Erste Bürgermeister der Hansestadt gilt als möglicher Ersatz für Schulz, sowohl als Parteichef als auch als Kanzlerkandidat für eine mögliche Neuwahl. Scholz aber lässt sich auch bei „Lanz“ nicht in die Karten gucken und gibt eher kryptische Antworten. Herauszuhören aber ist, dass er eine Neuwahl noch immer für denkbar hält: „Ich glaube, dass es falsch wäre, zu sagen, dass das jetzt keine Möglichkeit ist“, sagt er etwas verschwurbelt. Die Wähler erneut an die Urnen zu schicken, „macht nur dann Sinn, wenn man aus den Gesprächen mit den Bürgern den Eindruck bekommt, dass sie lieber ein anders Wahlergebnis herbeiführen würden“ als beim letzten Mal. Ob das jetzt der Fall ist? Scholz lächelt nur in sich
hinein.

Für die SPD würde eine Neuwahl freilich bedeuten, dass sie klären müsste, wer sie in den Wahlkampf führt. Noch einmal Schulz? Der Kantar-Emnid-Umfrage zufolge ist die Hälfte (54 Prozent) der befragten Bürger dagegen. Nur 38 Prozent können sich eine erneute Kandidatur vorstellen. Unter den SPD-Anhängern kann sich nur eine knappe Mehrheit (51 Prozent) das vorstellen und 45 Prozent sind dagegen. Überwiegend positiv würde eine erneute Spitzenkandidatur von Schulz im Lager der Grünen (56 Prozent) aufgenommen. Die Anhänger der übrigen im Bundestag vertretenen Parteien sprechen sich dagegen aus. Die strikteste Ablehnung erfährt Schulz bei FDP-Wählern, von denen ihn drei Viertel nicht erneut als Kandidaten sehen wollen. Auch zwei Drittel der Unionswähler lehnen ihn
ab.

Erstaunlich: Die größten Chancen hätte Schulz noch bei Anhängern der Linken und der AfD (jeweils 45 Prozent Zustimmung). Nicht nur in seiner eigenen Partei, auch von anderer Seite kommt Schulz unter Druck. Nachdem er den geplanten Stellenabbau in der Energiesparte des Siemens-Konzerns in den vergangenen Tagen mehrfach kritisiert und den Verantwortlichen dort „verantwortungsloses Management“ vorgeworfen hatte, bekam Schulz einen Brief von Siemens-Chef Joe Kaeser. Dieser erinnerte Schulz daran: Die Frage der Verantwortung „hat ja auch bei der politischen Führung unseres Landes brennende Aktualität“.