Abuja/Uba. Islamistengruppe wütet im Nordosten Nigerias. Anhänger verüben Anschläge und entführen Mädchen wie Amina. Eine Geschichte vom Kampf gegen den Terror in Afrika

Der Mann, der sie verschleppte. Der sie als Gefangene hielt und schlug, wenn sie nicht gehorchte. Der sie vergewaltigte. Dieser Mann war es, der am Ende so etwas wie Gnade zeigte. Er wollte noch für sie sorgen, als er selbst schon dem Tod geweiht war. Vielleicht liebte er sie sogar.

Amina sitzt unter einem Baum mit wuchtigen Wurzeln, die wie die Rücken von Krokodilen aus dem Sand ragen. Die Luft ist schwer und heiß. Amina trägt ein Kleid aus braunem und gelbem Stoff, auf dem Kopf ein buntes Tuch. In ihren Ohren steckt goldener Schmuck, am Finger ein silberner Ring, ihre Lippen sind rot geschminkt. Sie hat sich hübsch gemacht für dieses Gespräch.

Amina, 21 Jahre alt, sagt mit leiser Stimme in die Mittagshitze: „Ich danke Gott, dass dieser Mann erschossen wurde. Nur so konnte ich entkommen.“ An ihrer Brust stillt sie den kleinen Jungen, ein Jahr alt. Er ist der Sohn dieses Mannes, eines Terroristen von Boko Haram.

Können Menschen zurückfinden in ein Leben ohne Angst? Und wie können Dörfer einen neuen Alltag aufbauen, wenn die Häuser zerstört und die Bewohner auseinandergetrieben wurden? Zwei Fragen, die entscheidend sein werden für Aminas Zukunft. Aber auch für die Zukunft Nigerias, vielleicht ganz Afrikas. Im Südsudan herrscht Bürgerkrieg, in Somalia wüten die Islamisten von al-Shabaab, im Kongo kämpfen Milizen um die Herrschaft. Und Boko Haram attackiert nicht nur Dörfer in Nigeria, die Dschihadisten agieren auch in den Nachbarstaaten Niger und Kamerun. Millionen Menschen sind auf der Flucht, mehr als 30.000 wurden in den vergangenen Jahren getötet. Überall hört man Geschichten wie die von Amina.

Es war Oktober 2014, als sie noch die Flucht vor ihren Peinigern versuchte. Sie lebte mit ihrem Ehemann in einer Hütte mit Wellblechdach im Nordosten Nigerias. Er hatte ein kleines Geschäft, sie kümmerte sich um das Haus. Amina war sechs Jahre zur Schule gegangen, hatte als Kind ihren Eltern auf dem Feld geholfen, wo sie Mais und Bohnen ernteten, wie so viele in den Dörfern. Amina war noch ein Teenager, als sie einen Mann aus der Gegend heiratete und eine Familie gründen wollte. Ein afrikanisches Landleben, in das viele junge Frauen hineinwachsen. Doch der Terror durchbrach die Tradition. Und Aminas Leben.

Das nigerianische Militärwar in dieser Zeit überfordert

Die Dschihadisten von Boko Haram waren seit Monaten auf dem Vormarsch, sie eroberten Ort für Ort, propagierten ihren Scharia-Staat. Mit Gewalt. Die Kämpfer fuhren mit Pick-up-Trucks und auf Motorrädern vor, bewaffnet mit Maschinenpistolen, Macheten und Panzerfäusten, sie erschossen Männer, plünderten Häuser und Felder, brannten Kirchen, Banken und vor allem Schulen nieder. Boko Haram, das heißt so viel wie: „Westliche Bildung ist Sünde“.

Amina und ihr Mann hörten, dass die Terroristen näher rückten. Das nigerianische Militär war in dieser Zeit überfordert. In manchen Dörfern hätten sie die Menschen noch gewarnt, erzählt ein Gemeindevorsteher. „Es ist besser, wenn ihr flieht“, sagten die Soldaten. Dann flohen sie selbst. Amina zog zurück zu ihren Eltern ins Dorf Mayo Bani, einige Kilometer weiter im Süden.

Es dauerte nur einen Tag, bis die Männer auf den Motorrädern auch dort einrollten. Drei Kämpfer von Boko Haram standen im Haus der Eltern, auf der Suche nach Frauen, die sie zu Bräuten in ihrem „Kalifat“ machen konnten. Und sie sagten zum Vater: „Wir wollen deine Mädchen.“ Die Mutter weinte. Der Vater stellte sich vor seine Töchter, wollte sie schützen. Aber die Männer mit den Motorrädern hatten die Waffen im Anschlag. Schließlich stimmte der Vater der Hochzeit seiner Töchter mit den Terroristen zu, so wie es die Tradition verlangt. „Er hat nur sein eigenes Leben gerettet“, sagt Amina heute. Die Männer verbanden ihr und ihren beiden Schwestern die Augen, zerrten sie auf die Motorräder und fuhren davon.

Wenn Amina ihre Geschichte erzählt, flüstert sie die Worte nur. Ihr Kopf ist gesenkt, der Blick wandert über den Sandboden. Mit der Hand berührt sie manchmal das Bein ihrer Schwester Miriam, die neben ihr sitzt. Auch sie, damals gerade 14 Jahre alt, entrissen die Terroristen ihrer Familie.

Wer zu Menschen wie Amina möchte, muss von der nigerianischen Hauptstadt in den Nordosten des Landes fliegen. Von dort führt eine Hauptstraße mehrere Stunden in Richtung Borno State, am Ende geht es über Sandpisten, die Regenzeit hat tiefe Schlaglöcher gespült. In den bewucherten Hügeln, den Wäldern und Dörfern rund um den Tschadsee, hier im Ländereck von Nigeria, Niger, Tschad und Kamerun, begann Boko Haram vor mehr als acht Jahren den Eroberungsfeldzug. Aus dieser Region kommen viele Kämpfer; hier wachsen die Jungen auf, die sie als Nachwuchs-Dschihadisten rekrutieren und mit Versprechen zum Terrorismus locken: Motorräder, Waffen, Frauen.

Dschihadismus ist für manche ein Abenteuer im trostlosen Alltag, ein Ausweg aus der Armut. Ein ökonomischer Faktor im wirtschaftsschwachen Norden, in dem Bauern und Viehzüchter um das wenige fruchtbare Land kämpfen.

Und hier, im Borno State, entführte Boko Haram Tausende Mädchen. In einer Aprilnacht 2014 fuhren Männer mit Lastwagen vor der Schule im kleinen Ort Chibok vor, nur etwa 20 Kilometer nördlich von dem Dorf, in dem Amina heute lebt. Sie überwältigten das Sicherheitspersonal und luden fast 300 Mädchen auf ihre Ladeflächen. In einem Video nannte der Anführer von Boko Haram, Abubakar Shekau, die Kinder später seine „Sklaven“. Boko Haram schaffte es weltweit in die Schlagzeilen. Die Gruppe war nun nicht mehr nur in Nigeria gefürchtet. Michelle Obama und andere Prominente twitterten: „Bring back our girls“. Die Lage war außer Kontrolle.

Nigeria ist reich im Vergleich zu seinen Nachbarn, eine Regionalmacht. 200 Millionen Menschen leben hier, es steht auf Platz 13 der größten Öl-Produzenten weltweit und gehört laut Weltbank zu den Top 30 der stärksten Wirtschaften. In den afrikanischen Konflikten war Nigeria meist Teil der Lösung, selten Teil des Problems. Das hatte sich geändert.

Wer nach den Ursachen für den Aufstieg von Boko Haram sucht, muss mit den Menschen in den Dörfern sprechen, die von der Miliz erobert wurden. Rose ist eine Frau Mitte 40, sie ist aus ihrem Heimatort geflohen, nachdem Kämpfer ihren Mann getötet hatten. Die Islamisten seien nachts gekommen, hätten die Tür eingeschlagen und ihn an Händen und Beinen gefesselt. „Dann schlugen sie ihm den Kopf ab“, erzählt Rose. In ihrer Stimme liegt mehr Wut als Trauer.

Rose und ihre Familie sind Christen. In dem Dorf nahe der Metropole Maiduguri waren die meisten Nachbarn Muslime. „Aber das war nie ein Problem“, sagt sie. Zu Weihnachten brachten sie Geschenke vorbei, Gebäck oder gebratenes Fleisch, an Ramadan kamen die Muslime mit Gaben. Es gab Kirchen in ihrem Ort, genauso wie Moscheen. „Aber irgendwann habe ich gesehen, wie die Muslime unsere Geschenke an ihre Schafe verfüttert haben“, sagt Rose. Ihr Nachbar predigte jetzt einen radikalen Islam. Christen wie Rose waren auf einmal Feinde. „Ich glaube, er war es auch, der den Kämpfern von Boko Haram verraten hat, wo wir leben.“ Als die Männer ihren Mann töteten, sei sie von Haus zu Haus gerannt und habe um Hilfe geschrien. „Aber niemand hat die Tür geöffnet“, sagt Rose. Dann hat sie eine Decke über den toten Körper ihres Mannes gelegt. „Die Hunde rochen sein Blut.“

Der nigerianische Autor Helon Habila schreibt, dass nicht die Religion die Menschen in Nigeria trenne, sondern die Ethnie. Viele sehen sich als Hausa, als Fulani, Igbo oder Yoruba – erst dann als Christen oder Muslime. Und zuletzt als Teil von Nigeria, einem Land mit Hunderten Sprachen. Der Staat, ein fragiler Überbau in einer zerpflückten Nation, ist nur mühsam zu verwalten. Viele Volksgruppen organisieren eigene Milizen, um sich gegen Übergriffe zu schützen. Für das Militär ein nur schwer zu kontrollierendes Dickicht Bewaffneter.

Im Haus des Terroristen hatte Amina ein eigenes Zimmer, ein Bett, einen Schrank, einen Tisch. So wie jede der drei Frauen des Mannes, der sie entführt hatte. Amina kochte, es gab Reis, Nudeln oder Maisbrei, und genug Wasser. „Der Mann hat für uns gesorgt“, sagt sie. Das Haus aber durfte niemand verlassen. Nach draußen kamen die Frauen nur, wenn die Miliz der Terroristen weiterzog in ein anderes Dorf, das sie erobert hatten. Oder wenn sie sich zurückziehen musste. „Ich hörte die Kampfjets der Armee. Und ich betete, dass sie Boko Haram zerstören“, sagt Amina. Was mit ihren beiden Schwestern war, wusste sie nicht. Amina fragte die Kämpfer, bettelte, man möge sie zu ihnen bringen. „Ich wollte zu meiner Familie.“ Doch sie blieb Gefangene. Und abends kam der Mann, der sie verschleppt hatte, oft zu ihr ins Zimmer. Bald war sie schwanger.

Drei Jahre ist es nun her, dass der Konflikt eskalierte, inzwischen hat das nigerianische Militär viele Dörfer von der Herrschaft der Boko Haram befreit. Die Dschihadisten zogen sich zurück in den dichten Sambisa Forest. Doch sicher ist die Region nicht. Alle paar Kilometer kontrollieren an Checkpoints Soldaten und Polizisten die Straßen. Mal tragen sie nur Sandalen, Jeans, T-Shirt und eine Maschinenpistole. Als Barriere dient ein Baumstamm. Mal sind die Soldaten hochgerüstet mit Helm und kugelsicherer Weste, ein Panzerfahrzeug parkt am Straßenrand. Dort verkaufen Kinder den wartenden Fahrern Kaugummis, Feuerzeuge oder Bananen. Lastwagen und Busse passieren die Marktplätze und Hauptstraßen, auch Autos von Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz oder Ärzte ohne Grenzen.

Wir sind unterwegs mit Elizabeth Joel Maiyaki und anderen Mitarbeitern von Plan International. Mehrmals in der Woche besuchen die Teams die einst von Boko Haram besetzten Dörfer. Sie bringen Essen, Zahnbürsten, Seife, Schuhe und Spielzeug für die Kinder. Sie bieten Geld und Geräte wie Nähmaschinen und Getreidemühlen für Familien an, die sich eine neue Existenz als Bauern oder Kleinhändler aufbauen wollen.

Noch immer sind zwischen 500.000 und 800.000 Menschen von jeder Hilfe abgeschnitten, sagt das Flüchtlingshilfswerk UNHCR. 2017 hat Boko Haram Dutzende Selbstmordattentäter eingesetzt – häufig Mädchen. Die Zahl der Anschläge hat sich vervierfacht.

Maiyaki sagt, dass jede Hilfe in Krisengebieten in Stufen verlaufe. Erst müsse sicher sein, dass die Menschen nicht mehr angegriffen werden. Dann bräuchten sie Nothilfe: Essen, Wasser, ein Dach. „Viele Bauern konnten jahrelang ihre Felder nicht bestellen. Der Weg dorthin war zu gefährlich.“ Kinder konnten Monate oder Jahre nicht zur Schule gehen, weil das Gebäude zerstört war. Oder weil sie in Flüchtlingscamps ausharren mussten.

Die Kinder malen den Terrorin ihren Köpfen

„Doch die schwierigste Aufgabe liegt noch vor uns“, sagt Maiyaki. „Die Menschen müssen wieder an eine bessere Zukunft glauben.“ Vor allem die Kinder. Dafür müssen sie Schulen wieder aufbauen. Und ihr Vertrauen. Vor allem in sich selbst. Plan International hat in einigen Dörfern neben der Schule ein blau gestrichenes Haus gebaut, ein Dach aus Metall, halbhohe Wände aus Beton, es dringt viel Licht in den Raum. „Child friendly space“, steht dort. Ein Schutzraum für Kinder. Hier treffen sich Jungen und Mädchen nach der Schule, spielen Fußball, Tauziehen, singen oder malen. Frauen und Männer aus dem Dorf passen auf die Kinder auf, während die Eltern auf dem Feld oder im Geschäft arbeiten. Manchmal würden Kinder noch immer düstere Männer mit Waffen und Motorrädern malen, sagt Maiyaki. Sie malen den Terror in ihren Köpfen.

Aminas Rettung aus den Händen der Dschihadisten war ein Brief des Mannes, der sie gefangen hielt. Er hatte ihr nach Monaten der Gefangenschaft erlaubt, ihre Schwester bei Kämpfern im Nachbardorf zu besuchen. Amina fuhr zu ihr, umarmte sie, kochte mit ihr, redete ihr Mut zu. Sie schmiedeten Pläne, wie sie fliehen wollten. Aber immer standen bewaffnete Männer in ihrer Nähe. Und diese Männer schöpften bald Verdacht: Warum gab einer ihrer Kämpfer seinen Frauen so viel Freiheit? Wollte er sich mit ihnen absetzen? Amina erzählt, dass die Terroristen den Mann, der sie verschleppt hatte, einsperrten. Länger als einen Monat hörte sie nichts. Dann sei er von den eigenen Leuten erschossen worden: auf Verrat steht die Todesstrafe. In einem Brief habe er seinen letzten Wunsch hinterlassen. Seine Frauen sollten zum Kommandanten gebracht werden, damit dieser für sie sorge.

Ein Junge der Kämpfer brachte Amina, ihre Schwester Miriam und die beiden anderen Frauen durch den Wald in das Camp des Kommandanten. Drei Tage waren sie unterwegs, dann brach Amina zusammen, das vier Monate alte Baby im Bauch. Der Junge habe Hilfe holen wollen, erzählt Amina, und verschwand im Dickicht. Sie und ihre Schwester rannten los, mit letzter Kraft. Nach vier Stunden sahen sie Soldaten der Armee an einem Checkpoint.

Seitdem sie aus der Gefangenschaft zurück ist, lebt Amina wieder bei ihren Eltern. Ihr früherer Mann habe sie nicht mehr sehen wollen, sagt sie. Er hat sie verstoßen statt sie aufzubauen. Das Blut der entführten Mädchen gelte manchen als „verdorben“, sagen Helfer von Plan International. Deshalb ist in diesem Text Aminas Name geändert. Um sie zu schützen, soll auch ihr Gesicht nicht zu erkennen sein.

Ihre Zukunft zeichnet sie mit wenigen Worten. „Familie“, sagt Amina. Ein Haus, ein Stück Land vielleicht. Im Dezember werde sie wieder heiraten, einen Mann aus der Gegend. Er habe sie akzeptiert, mit ihrer Geschichte, mit ihren Narben. Und er wolle mit ihr gemeinsam den Sohn großziehen, das Kind eines Terroristen. Er heißt Haruna. Der Name bedeutet „Großer Berg“.