Washington. US-Präsident Trump hat Tausende Geheimdienst-Dokumente zu dem Attentat offengelegt. Doch einige Papiere bleiben unter Verschluss

Der Anrufer, der sich am 22. November 1963 um 18.05 Uhr in der Redaktion der Cambridge News in England meldete, war knapp aber präzise. „Ruft die amerikanische Botschaft in London an, es gibt große Nachrichten.“ 25 Minuten später war am anderen Ende der Welt in Texas der amerikanische Präsident John F. Kennedy tot. Erschossen während einer Fahrt im offenen Wagen durch Dallas. Von dem Einzeltäter Lee Harvey Oswald, der wiederum zwei Tage danach von dem Nachtclub-Besitzer Jack Ruby getötet wurde. So steht es in den offiziellen Geschichtsbüchern.

Ob sich der Anruf, der den vielen Verschwörungstheorien rund um das Jahrhundert-Ereignis eine weitere hinzufügt, vor fast 54 Jahren tatsächlich so zugetragen hat, weiß niemand. Aber er ist in den letzten bislang streng unter Verschluss gehaltenen 2800 Dokumenten amerikanischer Geheimdienste nachzulesen, die das National-Archiv in Washington jetzt im Internet der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Machen musste. Eine nach dem Hollywood-Film „JFK“ von Oliver Stone, der die Alleintäter-These demontierte, vom Kongress verabschiedete Geheimhaltungsfrist von 25 Jahren war am Donnerstag abgelaufen.

Völlige Transparenz, wie sie Präsident Donald Trump zuvor andeutete, gibt es aber immer noch nicht. Bis zur letzten Minute intervenierten Vertreter der Bundespolizei FBI und des Auslandsgeheimdienstes CIA im Weißen Haus gegen die Herausgabe von rund 300 Unterlagen, die teilweise erst in den 90er-Jahren entstanden sind. Angeblich sollen dort Details über noch lebende Informanten zu finden sein. Diese Papiere werden laut Trump in sechs Monaten bereitgestellt. Bisher sind bereits fünf Millionen Seiten über das Kennedy-Attentat aus den Archiven veröffentlicht.

Experten wie Gerald Posner, der für sein Kennedy-Buch („Case Closed“) den Pulitzer Preis erhielt, reagierten irritiert. Die Behörden hatten ein Vierteljahrhundert Zeit, um die Aktenlage zu klären, sagte er. „Die Verzögerung wird den Eindruck des Durchschnittsbürgers verstärken, dass die Regierung etwas zu verbergen hat.“

Laut Umfragen halten beständig zwei Drittel der Amerikaner den regierungsamtlichen Befund der Warren-Kommission für unglaubhaft. Danach handelte Lee Harvey Oswald auf eigene Faust, als er aus dem fünften Stock eines Schulbuchlagers auf den Konvoi von Kennedy zielte.

Dass es anders gewesen ist, geben die freigegebenen Akten erwartungsgemäß nicht her. Aber auch wenn eine Auswertung nach Einschätzung von Prof. Larry Sabato von der Universität von Virginia „Monate dauern wird“, beugen sich Experten interessiert über bisher unbekannte oder nicht offiziell bestätigte Details:

Die Russen, bis hin zu Präsident Nikita Chruschtschow, hielten es für abwegig, dass Oswald auf eigene Faust gehandelt haben könnte. Sie vermuteten eine Verschwörung unter Beteiligung der Polizei von Dallas, einer ultrarechtsextremen Gruppe und/oder des Kennedy-Nachfolgers Lyndon B. Johnson hinter dem Attentat. Im Kreml ging damals die Angst um, in Washington könnte ein verantwortungsloser US-General einen Raketenangriff auf die Sowjetunion starten.

Oswald war wenige Wochen vor der Bluttat in Mexiko-City. Dabei wurde er von Rodriguez Tamayo begleitet, einem militanten Gegner des kubanischen Diktators Fidel Castro. Oswald traf sich in der russischen Botschaft auch mit Waleri Wladimirowitsch Kostikow, einem für Attentate zuständigen Agenten des KGB.

FBI-Chef J. Edgar Hoover hatte gemeinsam mit Vizejustizminister Nicholas Katzenbach schon früh die Sorge, „wie wir die Bevölkerung davon überzeugen können, dass Oswald der wahre Attentäter ist“. Er verlangte von seinen Ermittlern vehement Beweise.

Hoover war es auch, der unmittelbar nach dem Mord an Kennedy einräumte, dass Oswald gefährdet ist. „Letzte Nacht bekamen wir einen Anruf in unserem Büro in Dallas von einem Mann, der mit ruhiger Stimme sagte, er sei Mitglied eines Komitees zur Ermordung Oswalds“, schrieb Hoover an dem Tag, an dem Oswald erschossen wurde. Darauf sei der Polizeichef in Dallas um mehr Personenschutz gebeten worden. Hoover lakonisch: „Das ist jedoch nicht geschehen.“

Insider wie der Autor Philip Shenon vermissen auch darum die 338 Seiten starke Akte über J. Walton Moore, den damaligen Chef des CIA-Büros in Dallas. Auch ein kleineres Dossier von 18 Seiten über den Geschäftsmann Gordon McClendon fehlt. Er hatte den Mörder Oswalds, Jack Ruby, kurz vor dem Attentat getroffen. Beide Dokumente zählen zu jenem Mini-Teil des Archivs, das noch unter Verschluss bleibt.

Dagegen enthält das öffentliche Material sogar eingebaute Cliffhanger. Beispiel Richard Helms. Der frühere CIA-Direktor hatte 1975 in einer eidesstattlichen Vernehmung zu Protokoll gegeben, dass Lyndon B. Johnson Kennedys Ermordung als Vergeltung ausländischer Zirkel für amerikanische Missetaten im Vietnam-Krieg begriff. Dabei wurde Helms gefragt, „ob es irgendwelche Informationen darüber gibt, dass Lee Harvey Oswald ein Agent des Auslandsgeheimdienstes …“ – an dieser Stelle bricht das Dokument ab.