Barcelona.

Um 15.25 Uhr gibt es auf dem Platz vor dem katalanischen Regionalparlament in Barcelona kein Halten mehr. Gerade haben die Separatisten die Abspaltung von Spanien beschlossen. Alte Frauen tanzen auf dem Platz im Kreis und brüllen etwas in ihr Telefon, das nach „Independència“ klingt. Studenten liegen einander in den Armen, singen katalanische Lieder. Am Rande stehen grinsend drei Geschäftsfrauen, die mit Weißwein anstoßen. Eine von ihnen ist Montserrat Costafreda. Sie sagt: „Ich kann gerade nicht denken, nur fühlen.“ Sie will nicht über Artikel 155 reden oder über die EU, das sei alles egal. „Wir sind jetzt unser eigenes Land und reden mit Spanien auf Augenhöhe.“ Von jetzt an, ist sie sich sicher, werde alles besser. „Nur“, fügt sie an, „zum Flughafen würde ich erstmal nicht fahren, den haben die spanischen Mistkerle wahrscheinlich schon geschlossen.“

Während sich die Befürworter der Unabhängigkeit feiern, ruft der spanische Regierungschef Mariano Rajoy die Bevölkerung auf, Ruhe zu bewahren. Wenig später, um 16.05 Uhr, gibt der spanische Senat grünes Licht für die Zwangsverwaltung der autonomen Region Katalonien, die Senatoren stimmen für die Anwendung des Verfassungsartikels 155. Das war sie also, die Unabhängigkeit für Katalonien. Sie dauerte 40 Minuten.

Noch am Abend reagiert Madrid mit Nachdruck: Die Zentralregierung stellt die autonome Region unter Zwangsverwaltung. Er habe sich entschieden, die katalanische Regierung zu entlassen, teilte Rajoy am Freitagabend in Madrid mit. Sein eigenes Kabinett werde die Aufgaben der katalanischen Behörden übernehmen. Er habe zudem das Parlament in Barcelona aufgelöst, am 21. Dezember solle neu gewählt werden. Die Generalstaatsanwaltschaft will Regionalpräsident Carles Puigdemont wegen „Rebellion“ vor Gericht stellen. Außerdem werde er den Polizeichef der Region entlassen, kündigte der Ministerpräsident an.

„Hier wird gerade Europa aufs Spiel gesetzt“

Begonnen hat der Tag der Unabhängigkeit wie viele Tage in dieser Woche: mit einer Großdemonstration in Orange und Gelb, den Nationalfarben Kataloniens. Die Menge trifft sich dieses Mal vor dem Parlamentsgebäude, wo das Regionalparlament tagt. Die Sitzung wird auf dem Vorplatz übertragen. Dem Regierungschef liegt zu dem Zeitpunkt schon eine Resolution vor, die mit folgendem Satz beginnt: „Wir erklären Katalonien zum unabhängigen Staat in Form einer Republik.“ Über diesen Text soll das katalanische Parlament in Barcelona abstimmen. Doch zunächst diskutierten sie, wie sie seit Monaten diskutiert haben, Befürworter und Gegner – leicht daran zu erkennen, dass sie entweder ausgepfiffen oder beklatscht werden. Die Gegner haben sich offenbar verständigt, eine Abstimmung weit nach hinten zu schieben. Sie debattieren voller Inbrunst noch einmal alle Argumente durch: wie unvorbereitet die Politik, wie verunsichert die Wirtschaft Kataloniens schon jetzt ist. Die Menge ruft vereint „Fora“, katalanisch für „Hau ab“.

Marta Pombo hatte sich für diesen großen Tag extra zurecht gemacht: Auf ihrem Rock aus Plastikfolie steht „Demokratie“, auf ihrem Rücken legt sich wie ein Superhelden-Umhang die katalanische Flagge und auf dem Kopf trägt sie einen karierten Hut – der erst bei näherem hinschauen ein Fahrradhelm ist. Die katalanische Deutschlehrerin nennt die Unabhängigkeit „das kleinere Übel“. Sie schlafe seit Tagen schlecht und wer weiß, vielleicht kommt wirklich bald die Polizei und beendet diese Demonstration gewaltsam. „Dieses Mal bin ich vorbereitet“, sagt sie und klopft auf ihren Fahrradhelm.

Doch auf internationale Unterstützung braucht Katalonien nicht zu hoffen: Sowohl Brüssel als auch Berlin kündigten an, auch in Zukunft nur mit Madrid sprechen zu wollen. „Die Souveränität und territoriale Integrität Spaniens sind und bleiben unverletzlich. Eine einseitig ausgerufene Unabhängigkeit Kataloniens verletzt diese geschützten Prinzipien“, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. „Die Bundesregierung erkennt eine solche Unabhängigkeitserklärung nicht an.“ EU-Ratspräsident Donald Tusk erklärte in Brüssel, für die EU bleibe Spanien der alleinige Ansprechpartner. Angesichts der Zuspitzung im Katalonien-Konflikt mahnte er die Führung in Madrid aber zur Zurückhaltung. „Ich hoffe, dass die spanische Regierung mehr auf die Stärke des Arguments setzt als auf das Argument der Stärke“, erklärte Tusk auf Twitter.

In der Tat ist an diesem Wochenende im Zentrum von Barcelona alles möglich: ausgelassene Unabhängigkeitsfeier oder Straßenkampf. Unter den vielen Journalisten, die extra angereist sind, ist auch der Niederländer Arnold Karskens. Er berichtet sonst aus Kriegsgebieten. Jetzt ist er in Barcelona. „Hier wird gerade Europa aufs Spiel gesetzt“, sagt er, „ich habe das Gefühl, dass nicht mehr viel fehlt bis zum Bürgerkrieg.“