Bangladesch. Rund eine Million Rohingya sind nach Bangladesch geflüchtet. In den Lagern leiden sie an Hunger und Krankheit.

Nicht weit vom Paradies entfernt liegen die Lager größter menschlicher Not. War die Region Cox’s Bazar in Bangladesch bis vor einigen Wochen eigentlich nur bekannt, weil sich dort mit 120 Kilometern einer der drei längsten Sandstrände der Welt erstreckt, ist der Name nun ein Begriff für Vertreibung und Elend. Rund um diese Stadt entstehen immer größere Flüchtlingslager. Mehr als 900.000 Rohingya, so wird die muslimische Minderheit in Myanmar bezeichnet, sind schon dorthin geflüchtet. Die Lager sind überfüllt. Es fehlt an allem. An Essen und Trinkwasser, vor allem aber an Sanitäranlagen, Abwassersystemen und ausreichender medizinischer Versorgung. Es fehlt auch an Ordnung, an Ruhe, an Würde.

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Jede einzelne Geschichte der Flucht schmerzt. Ist ein Einzelschicksal im Meer des Leids einer verfolgten Minderheit. Wie die Geschichte von Fiza: Ihre Wehen setzten um 22 Uhr ein. Sie geriet in Panik. Doch unter den anderen Flüchtlingen im Camp fand sich eine Hebamme, die sie unterstützte. „Ein paar Stunden später kam mein Junge zur Welt.“ So schildert Fiza die Nacht des 23. Septembers. Doch ihr Kind starb nur acht Tage später. Die junge Frau erzählte den Mitarbeitern der Hilfsorganisation World Vision, die in den Flüchtlingscamps im Einsatz sind, ihre traurige Geschichte: „Mein Sohn hatte keine Chance.“

Riesige humanitäre Katastrophe

Die Welthungerhilfe warnt vor einer riesigen humanitären Katastrophe. Nach Angaben der Vereinten Nationen müssen in den kommenden Monaten rund 1,2 Millionen Menschen versorgt werden – mit dem Nötigsten. In der Region um Cox’s Bazar entsteht gerade eines der größten Flüchtlingslager der Welt.

Drei Prozent der Menschen in den Lagern sind Schwangere und sieben Prozent stillende Frauen. Auf ihrer zehn- bis 14-tägigen Flucht lebten die Menschen lange Zeiten ohne Wasser, Essen und auch ohne genügend Schlaf und Pausen. Weil auch Fiza nach der Geburt ihres Sohnes so schwach war, konnte ihr Körper kaum Muttermilch produzieren. „Ich fütterte mein Kind mit Kuhmilch, die im Camp verteilt wird. Als ich mein Kind nach drei Tagen endlich stillen konnte, war der Junge bereits krank und zu schwach, um zu trinken“, sagte sie.

Sie brachten das Kind noch ins Krankenhaus, doch man konnte ihm nicht mehr helfen. Am achten Tag seines Lebens starb das Baby. Einen Ort für eine Beerdigung zu finden war schwer. Im Camp gibt es keinen Friedhof. Die Eltern konnten das Kind schließlich auf einem lokalen Friedhof beerdigen. Dass der Sohn tot ist, kann Fiza immer noch nur schwer fassen: „Zehn Monate war mein Junge in mir. Er war ein sanftes Kind. Dann konnte ich ihn endlich sehen: Er hatte das Gesicht seines Vaters. Anaj, so wollten wir ihn nennen.“

Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge sind Frauen und Kinder. Christoph Hanger vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz mahnt, dass gerade diese Gruppe besonders schutzbedürftig und gefährdet ist. „Die Kinder spielen an Flüssen, in denen Fäkalien schwimmen, weil es kein ausreichendes Abwassersystem gibt. Die Gefahr ist sehr groß, dass Krankheiten ausbrechen.“ Seine Hilfsorganisation baut unter anderem Sanitäranlagen in den Lagern, verteilt Essen und Trinkwasser. „Die Menschen sind völlig entkräftet, wenn sie die Lager erreichen. Alte und Kinder werden von ihren Angehörigen ge­tragen.“

Flucht und Verzweiflung

Täglich ist Christoph Hanger bei den Flüchtlingen, dabei erfährt er viel von ihren Erlebnissen, von ihrer Flucht und ihrer Verzweiflung. Hanger erzählt am Telefon von seiner Begegnung mit Mohammed. Er traf den 60-Jährigen gerade als der von einem stundenlangen Marsch auf der Suche nach Holz kam. Mohammed wollte damit Feuer machen, um Essen zu kochen. Der Mann war erschöpft und voller Sorgen. Er hat sechs Kinder und fragte sich, wie er sie künftig ernähren solle. In Rakhine war er Farmer. In der Gegend vom Lager sucht er jetzt nach Arbeit, aber findet keine. Hanger war beeindruckt von Mohammed: „Er hieß uns trotz aller Sorgen in seinem Zelt willkommen. Zeigte uns, wo er kocht und wo er schläft. Es war in dem Zelt unglaublich heiß, aber es war herzzerreißend, wie gastfreundlich er war.“

Am härtesten ist es
für die rund
380.000 Minderjährigen
in den Lagern
von Bangladesch.
Nach der Flucht
geht der Überlebenskampf
dort
weiter. Wegen Hunger,
Krankheit und
schlechter hygienischer
Zustände
Am härtesten ist es für die rund 380.000 Minderjährigen in den Lagern von Bangladesch. Nach der Flucht geht der Überlebenskampf dort weiter. Wegen Hunger, Krankheit und schlechter hygienischer Zustände © Imago/Rene Traut

Christoph Hanger ist erst 29 Jahre alt und zum ersten Mal im Kriseneinsatz für seine Organisation. Auf die Frage, wie er mit all dem Leid und der Not umgehe, sagt er, dass er das noch nicht so sehr an sich heranlasse. Erst, wenn er wieder in ein paar Wochen in Genf sei, dann würde er sich um sich selbst kümmern. Die vielen Lager um die Stadt Cox’s Bazar gleichen einem immer größer werdenden Slum. Der Australier Robert Onus, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen in Bangladesch, beschreibt im Gespräch mit dem Abendblatt, dass die Situation im Moment zwar „stabil“ sei, aber zugleich „fragil und überwältigend“. Immer mehr Menschen würden kommen. Am Anfang litten sie an körperlichen Wunden, die ihnen das Militär von Myanmar zugefügt hatte. Jetzt versorgten sie auch immer mehr Menschen, die durch den Aufenthalt im Lager krank werden. Kinder leiden an Hunger, starkem Husten, an Durchfall.

Risiko von Epidemien

Wegen der mangelnden Hygiene bestehe das Risiko von Epidemien. Das Wetter sei anstrengend, es herrsche ein ständiger Wechsel zwischen großer Hitze und starkem Regen. Eine Überflutung der Lager oder ein Orkan würden „eine menschliche Katastrophe“ verursachen.Auf die Frage, was ihm besonders an den Menschen auffalle, antwortete er: „Es ist diese Passivität, die ich immer wieder in den Gesichtern der Flüchtlinge sehe“, so Onus. Durch die Flucht haben die Rohingya alles verloren. Nicht nur ihren Besitz zurückgelassen, sondern auch die Perspektive. „Es gibt nur wenig Hoffnung. Es geht nur um die Gegenwart, ums Überleben.“

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Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen sorgt für die medizinische Versorgung in den Lagern. Bisher haben die rund 1000 Mitarbeiter zwei Krankenhäuser errichtet und zehn kleinere Gesundheitshäuser sowie seit Beginn der Fluchtwelle im August 48.000 Patienten behandelt. Vor allem sei es schwierig, alle kranken Menschen zu erreichen. „Es ist unmöglich“, sagt er, „aber wir versuchen an strategisch wichtigen Orten unsere Stationen zu errichten.“ Zu den körperlichen Krankheiten komme die psychische Belastung der Flüchtlinge. „Wir haben zwar auch Psychologen, aber es wird Jahre dauern, diese Wunden zu heilen“, sagt Onus. Und fügt noch hinzu, dass einige Erlebnisse wie der Tod von Angehörigen oder eine Vergewaltigung nie heilen würden. „Das Leid der Rohingya ist unermesslich.“

Brandschatzungen, Vergewaltigung und Folter

Die muslimischen Rohingya werden im vorwiegend buddhistischen Myanmar nicht als Minderheit anerkannt. Seit August geht das Militär in dem Teilstaat Rakhine gegen sie vor. Die Uno berichtete von Tötungen, Brandschatzungen, Vergewaltigung und Folter. Die Militäraktion begann, nachdem eine Rohingya-Miliz Armee- und Polizeiposten attackiert hatte. Uno-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi verlangte von den Behörden Myanmars, den Rohingya die Rückkehr zu gestatten. Trotz dieser Appelle an die Armee und De-facto-Regierungschefin, Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, stellt Myanmar sein hartes Vorgehen gegen die Rohingya bisher nicht ein.

In dieser Woche sagten die Mitgliedsländer der Vereinten Nationen 340 Millionen US-Dollar für die Rohingya zu. Hilfsorganisationen kritisieren den Betrag als zu gering: Die 340 Millionen US-Dollar machten pro Flüchtling umgerechnet lediglich 3 Euro pro Tag aus, sagte Jennifer Bose von der Hilfsorgani-­sation Care. Zudem kämen täglich neue Flüchtlinge hinzu. Auch die Welthungerhilfe appelliert zu spenden: „Die Herausforderungen für das Gastland Bangladesch sind enorm. Das Land zählt zu den am dichtesten besiedelten Gebieten der Erde“, sagt Till Wahnbaeck, Vorstandsvorsitzender der Welthungerhilfe. Durch den Klimawandel leide auch die einheimische Bevölkerung an Hunger. Die Hilfsgüter reichten bei Weitem nicht aus, und die hygienische Lage sei desas­trös. 170 Familien müssen sich sechs Toiletten teilen. Und jeden Tag entstünden neue Notunterkünfte an den Hängen, so Wahnbaeck, der gerade erst von einer Reise aus Myanmar zurückgekehrt ist.