Berlin. Für viele Kinder ist Bedürftigkeit oft nicht vorübergehend, sondern quälende Normalität. Ihr zu entkommen, ist fast unmöglich, so eine Langzeitstudie

Finanzielle Not nicht als Ausnahme, sondern Regel: Zwei Drittel der Kinder, die in Deutschland Armut erfahren, leben dauerhaft oder immer wieder in unsicheren Lagen. Nur wenige Betroffene finden dauerhaft den Weg aus der Armut, wie eine am Montag veröffentlichte repräsentative Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zeigt.

Zwar geht es dem Großteil der Kinder in Deutschland materiell gut: 68,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen leben in gesicherten Verhältnissen, wie die Forscher bei der Auswertung von Daten aus fünf aufeinanderfolgenden Jahren herausfanden. Doch das heißt umgekehrt auch: Fast ein Drittel der unter 18-Jährigen in der Bundesrepublik erfährt zumindest zeitweise, was es bedeutet, wenn das Geld nie bis zum Ende des Monats zu reichen scheint. Ein Fünftel aller Kinder lebt laut IAB-Studie wiederkehrend oder dauerhaft in nicht gesicherten Verhältnissen. Mehr als jedes zehnte Kind war zu jedem Zeitpunkt der Untersuchung, die erstmals fünf Jahre umfasste, Teil eines armen Haushalts.

Untersucht haben die Wissenschaftler die Einkommenssituation in den Familien von 3180 Kindern. Als arm wurden dabei die Familien eingestuft, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben oder Grundsicherung vom Staat beziehen. „Wir reden hier immer von einem relativen Armutskonzept“, sagt Silke Top-hoven, Co-Autorin der Studie. Das heißt: Den betroffenen Kindern und Jugendlichen fehlt es nur selten an einem Schlafplatz, Essen oder warmer Kleidung. „Die Grundversorgung ist meist gewährleistet, das muss man klar sagen“, so Tophoven.

Es fehlt das Geld für soziale und kulturelle Aktivitäten

Es sind stattdessen Dinge, die für andere selbstverständlich sind, bei denen sich arme Familien einschränken müssen: mal ein Kinobesuch, ab und an in ein Restaurant gehen oder Freunde zum Essen nach Hause einladen. „Einschränkungen haben Kinder aus armen Familien am ehesten im Bereich der sozialen und kulturellen Teilhabe“, erklärt Top-hoven. Das Risiko, Armut zu erleben, ist dabei nicht für alle Kinder gleich: Faktoren wie der Bildungsgrad der Eltern, Haushaltstyp und der Wohnort haben Einfluss auf die Chancen von Kindern und Jugendlichen, dauerhaft in Haushalten mit sicherem Einkommen groß zu werden.

So haben Familien, in denen die Eltern einen Hochschulabschluss haben, rund 58 Prozent bessere Chancen, zur Gruppe derer zu gehören, die dauerhaft ein sicheres Einkommen haben, als Familien, in denen der höchste Bildungsgrad ein Hauptschulabschluss ohne Berufsausbildung ist. Alleinerziehende haben dagegen laut Auswertung der Forscher eine fast 30 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit, in konstant gesicherten Verhältnissen zu leben. Auch Familien mit Zuwanderergeschichten, Familien im Osten Deutschlands und solche mit drei und mehr Kindern finden sich seltener als andere unter den finanziell Abgesicherten.

Zwischen den unterschiedlichen Gruppen – jenen mit sicherem Einkommen am oberen Ende der Skala, jenen, die dauerhaft von Hartz IV und unter der Armutsgrenze leben am anderen Ende, und vielen in unterschiedlich prekären Situationen dazwischen – gibt es dabei kaum Bewegung. Wer also bei der ersten Befragung, die in der Untersuchung ausgewertet wurde, in finanziell stabilen Verhältnissen gelebt hat, tat das meistens auch noch bei der letzten. Wer dagegen zu Beginn der Erhebung arm war, für den galt das mit großer Wahrscheinlichkeit auch noch zum Ende des betrachteten Zeitraums.

Sozialverbände kritisieren die Bemühungen der Politik

Der Weg aus der Armut ist dabei schwierig, aber nicht unmöglich: „Ein wichtiger Präventionsfaktor ist Bildung“, sagt Forscherin Silke Tophoven. „Hier sollte man versuchen, Chan- cengleichheit herzustellen.“ Doch der schulische Erfolg von Kindern, das ergeben regelmäßig Bildungsstudien, hängt in Deutschland stark vom Elternhaus ab.

Sozialverbände kritisierten am Montag die Bemühungen der Politik in diesem Bereich. „Das bittere Problem der Bildungsbenachteiligung hängt Deutschland schon seit zu vielen Jahren nach“, sagte Holger Hofmann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Kinderhilfswerks. Um wirksame Konzepte dagegen zu entwickeln, brauche es „eine gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern“. Der Paritätische Wohlfahrtsverband sprach angesichts der Ergebnisse der Untersuchung von einem „Beleg des armutspolitischen Scheiterns“ in Deutschland. „Es ist einfach beschämend, wie viele Kinder in diesem reichen Land in Armut aufwachsen“, erklärte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. „Wir reden hier von Millionen Kindern, die Ausgrenzung und Mangel Tag für Tag als Normalität erfahren, statt eine unbeschwerte Kindheit genießen zu dürfen.“

Die Fraktionsvorsitzende der ­Grünen, Katrin Göring-Eckardt, sah in den Ergebnissen der Studie einen ­Auftrag für die derzeit laufenden ­Sondierungsgespräche von CDU, CSU, FDP und Grünen. „Ich möchte nicht in vier Jahren dastehen für den Fall, dass wir an einer Regierung beteiligt wären, und noch einmal sagen müssen, jedes fünfte Kind lebt in Armut“, sagte ­Göring-Eckardt. Jetzt würden dringend Investitionen gebraucht: „Es geht um Investitionen in Familien, es geht um Investitionen auch in Infrastruktur, zum Beispiel die Schulen und Kin­dergärten“, sagte die Fraktionsvorsitzende.