Washington.

Kein Mord des 20. Jahrhunderts erzeugt bis heute so viel Aufsehen und Spekulation wie das Attentat auf den US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy in Dallas am 22. November 1963. Am Donnerstag schlagen die Wellen wieder besonders hoch.

Laut Umfragen hält auch ein halbes Jahrhundert später nur ein Drittel der Amerikaner die offizielle Version für glaubhaft. Danach hat Lee Harvey Oswald aus dem fünften Stock eines Schulbuchlagers drei Schüsse auf das fahrende Kabriolett Kennedys abgegeben. Allein. Ohne Hintermänner.

In regelmäßigen Abständen kommen jedoch Bücher auf den Markt, inzwischen sind es über 2000, die mal den Geheimdienst CIA im Verein mit missliebigen Generälen, mal Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson, mal die kubanischen Kommunisten um Fidel Castro, mal die Glücksspiel-Mafia und mal texanische Öl-Barone als Strippenzieher des traumatischen Ereignisses enttarnen wollen. Der Kennedy-Biograf Robert Dallek erklärte das Phänomen einmal mit dem Unwillen vieler Amerikaner zu akzeptieren, „dass jemand, der so unwichtig war wie Oswald, einen Mann, der so wichtig war wie Kennedy, getötet haben kann“.

Das ist die Ausgangslage, bevor am Donnerstag auf Anordnung von Präsident Donald Trump das National-Archiv die letzten unter Verschluss gehaltenen Akten im Zusammenhang mit dem Attentat im Internet freigeben soll. An diesem Tag läuft eine vor 25 Jahren vom Kongress festgesetzte Geheimhaltungsfrist aus. Muss die Geschichte umgeschrieben werden? Das Gros der Fachleute: eher nicht.

Der parlamentarische Entscheid ging auf den kontroversen Hollywood-Film „JFK“ von Oliver Stone zurück, der 1992 Verschwörungstheoretikern Auftrieb gegeben hatte. Stone stellte in seinem Werk Jim Garrison in den Mittelpunkt. Der Bezirksstaatsanwalt hatte 1966 in einem Prozess in New Orleans Ungereimtheiten aufgedeckt. Sein Fazit lag quer zu dem in 26 Bänden auf 30.000 Seiten festgehaltenen Abschlussbericht der von der Regierung eingesetzten Warren-Kommission. Sie hatte Oswald die Alleintäterschaft zugeschrieben. Viele Kritiker, etwa der deutsche Buchautor Mathias Bröckers, glauben dagegen an einen von Polizei und Geheimdiensten orchestrierten „regime change“ von innen.

Ob die 3571 unbekannten Dokumente und 34.000 bisher nur in streckenweise geschwärztem Zustand einzusehen gewesenen Unterlagen, die Trump im Sinne „voller Transparenz“ der Öffentlichkeit zugänglich machen will, Bröckers’ These erhärten werden, halten viele Kennedy-Experten für mehr als zweifelhaft. Tenor: Gäbe es die „smoking gun“, den Beweis für einen Staatsstreich oder eine kriminelle Intrige, „dann wäre das belastende Material längst vernichtet worden“. Gleichwohl haben CIA und die Bundespolizei FBI laut US-Medienberichten das Weiße Haus bedrängt, zum Schutze noch lebender Ex-Mitarbeiter nicht alle Papiere freizugeben.

Dabei gehe es nicht um die bekannten Zweifel an der Alleintäter-These. Zwei Kugeln Oswalds, der keine 48 Stunden nach der Bluttat vor den Augen von 140 Millionen Fernsehzuschauern von dem Nachtclub-Besitzer Jack Ruby mit einem Schuss getötet worden war, hatten Kennedy laut Warren-Bericht von hinten getroffen. Der Film von Abraham Zapruder zeigt jedoch, wie der Kopf Kennedys nach hinten gerissen wird, so als sei der Schuss seitlich von vorne abgegeben worden.

Experten wie Jefferson Morley oder Philip Shenon erhoffen sich neue Details zu der ominösen Mexiko-City-Reise, bei der Lee Harvey Oswald wenige Wochen vor dem Attentat – unter Beobachtung der CIA – kubanische und russische Spione traf. Wurde hier eine Gelegenheit versäumt, das Attentat zu verhindern?

Dass ausgerechnet Trump für Offenheit in der Causa Kennedy plädiert, ist nicht ohne Beigeschmack. War er es doch persönlich, der im Wahlkampf den Vater seines damaligen Konkurrenten um das republikanische Ticket, Ted Cruz, in Verbindung zum Kennedy-Mord gebracht hatte. „Was hatte er mit Lee Harvey Oswald zu schaffen, kurz vor dem Tod?“, fragte Trump nach Lektüre eines Boulevardblatts aufgeregt, „es ist schrecklich.“ Cruz’ Konter: „Pathologischer Lügner!“