Dresden/Berlin.

Eines der Ämter, das Michael Kretschmer derzeit ausübt, ist das des Präsidenten des Sächsischen Volkshochschulverbands. Erst vor zwei Monaten hat sich der CDU-Politiker in diese Position wählen lassen. Er sollte den Verband „auf Landes- und Bundesebene bildungspolitisch vertreten“, so zumindest der Plan. Daraus aber wird nichts: Der 42-jährige Kretschmer soll im Dezember Ministerpräsident von Sachsen werden.

Den völlig überraschenden Wechsel kündigte der amtierende Regierungschef des Freistaats, Stanislaw Tillich, am Mittwochnachmittag an. Der CDU-Politiker will zum Jahresende sowohl sein Amt als Ministerpräsident niederlegen, als auch als Parteichef in Sachsen zurücktreten. Enge Mitarbeiter Tillichs wussten von den Plänen offenbar nichts. Die Spitzenleute der CDU in Sachsen und im Bund waren erst seit Mittwoch früh informiert. So musste selbst der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer zugeben: „Ich war völlig überrascht. Wir haben gut zusammengearbeitet.“

Der Schritt dürfte damit zusammenhängen, dass die CDU in Sachsen bei der Bundestagswahl drastisch verloren hatte und von der AfD knapp als stärkste Partei abgelöst wurde. Im Frühjahr 2019 werden in Sachsen zuerst die Kommunalparlamente und im Sommer dann auch der Landtag neu gewählt. Gemessen an den Zweitstimmen kam die CDU in Sachsen bei der Bundestagswahl auf nur 26,9 Prozent und lag damit 0,1 Punkte hinter der AfD. In gleich drei Wahlkreisen verlor die CDU das Direktmandat an die AfD.

Auch der designierte Tillich-Nachfolger Kretschmer, der Generalsekretär der CDU Sachsen ist, verlor seinen Wahlkreis Görlitz an einen bis dahin völlig unbekannten AfD-Politiker. Der Freistaat gilt als Hochburg der Rechtspopulisten, in der Hauptstadt Dresden hatte sich die islam- und fremdenfeindliche Pegida-Bewegung gegründet.

In der Erklärung zu seinem Rücktritt blieb Tillich vage und erwähnte das Wahlergebnis nur indirekt. „Für eine gute Zukunft Sachsens sind neue Antworten wichtig“, heißt es darin. „Es braucht den Mut, gewohnte Bahnen zu verlassen.“ Man dürfe „nicht im Gestern und Heute gefangen sein“, es brauche „neue und frische Kraft“, so Tillich. Der Ministerpräsident nannte seinen designierten Nachfolger einen „Sachsen mit Herz und Verstand, der jung und doch erfahren ist“. Er habe sich eine hohe Wertschätzung erarbeitet und sei im Land und darüber hinaus sehr geachtet. Ihm selbst falle der Abschied aus der Politik nach 27 Jahren schwer. Tillich bat den Koalitionspartner SPD, Kretschmer im Dezember zum Ministerpräsidenten zu wählen. Mit dem Landesvorsitzenden Martin Dulig habe er telefoniert.

Die Sachsen-CDU segnete den Wechsel zwar noch am Mittwoch ab, fühlte sich aber vor den Kopf gestoßen: „Wir waren natürlich alle erst mal geschockt und sprachlos“, erklärte CDU-Fraktionschef Frank Kupfer. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), der seinen Wahlkreis im sächsischen Meißen hat, zollte Tillich Respekt. Aus seiner Sicht wäre der Schritt aber nicht nötig gewesen. „Es hätte auch einen Weg gegeben mit einer großen Kabinettsumbildung unter seiner Führung, einen neuen Anfang zu machen“, sagte de Maizière.

In seinem letzten Interview, das Tillich dieser Redaktion gab, hatte er eine schärfere Asyl- und Einwanderungspolitik gefordert und von seiner Partei verlangt, die Lücke nach rechts zu schließen. Das Ergebnis der Bundestagswahl habe gezeigt, dass sich ein Großteil der Bevölkerung nicht verstanden fühle. „Wenn man über die Mitte hinweg nach links geht, darf man die Stammwähler nicht vergessen: die rechtschaffenen Leute, die an Recht und Ordnung glauben“, sagte Tillich.

Nachfolger Kretschmer gilt als gut vernetzt

Vielen in der Sachsen-CDU reichte das nicht. Mehrere Landräte hatten vor den anstehenden Wahlen weitere Konsequenzen gefordert. Auch der erste Ministerpräsident nach der Wende, Kurt Biedenkopf (CDU), meldete sich und sprach Tillich die Eignung ab, den Freistaat zu regieren. Tillich habe das nie gelernt: „Er lebt ein bisschen in einer anderen Welt, ist primär interessiert an Kompromissen“, sagte der 87-Jährige, der 2002 nach 22 Jahren Regentschaft wegen einiger Affären und seines autoritären Führungsstils gehen musste. Sein Wunschnachfolger für Tillich war de Maizière.

Den neuen Mann kennt die CDU in Sachsen gut: Kretschmer ist seit zwölf Jahren Generalsekretär der Landespartei. Im Bundestag war er acht Jahre lang Vizefraktionschef und ist in Berlin entsprechend gut verdrahtet. Er gilt als kluger Verhandler. Nach dem völlig unerwarteten Verlust seines Bundestagsmandats hatte Kretschmer in einem Interview eingeräumt, die öffentliche Stimmung verkannt zu haben: „Ich hatte mit einem viel, viel geringeren AfD-Ergebnis gerechnet.“