Berlin.

Es ging um ein Stipendium einer namhaften politischen Stiftung in Deutschland. Sie wunderte sich zwar darüber, dass das finale Auswahlgespräch in einer Privatwohnung stattfinden sollte. Aber sie ging hin. Ein älterer Herr empfing die Bewerberin, nach Smalltalk auf der Terrasse des beeindruckenden Ap­par­te­ments erklärte er seine Vorliebe für ostdeutsche Frauen, sagte, diese seien „nicht korrumpierbar durch die Emanzipation“ und fragte: Ob es denn stimmen würde, dass ostdeutsche Frauen besonders experimentierfreudig im Bett seien, und ob die junge Frau die Chancen ihrer Bewerbung nicht lieber morgen beim Frühstück diskutieren wolle. Nach drei Stunden anzüglicher Bemerkungen verlässt die damals 23-Jährige unter zwingenden Vorwänden die Wohnung.

Offiziell beschwert hat sie sich damals nicht, hat abgewartet, ob sie das Stipendium bekommen würde. Erst als sie sich später mit anderen Stipendiatinnen austauschte, erfuhr sie von ähnlichen „Auswahlgesprächen“.

Die aus Königs Wusterhausen stammende Bewerberin von damals ist eine von Millionen Frauen weltweit, die jetzt unter dem Schlagwort „#MeToo“ („Ich auch“) öffentlich zugeben, Erfahrungen mit Sexismus, chauvinistischen Bemerkungen und Übergriffen gemacht zu haben. Allein das soziale Netzwerk Twitter zählte von Sonntagnachmittag bis Mittwoch 15 Uhr 1,4 Millionen Tweets. Ausgelöst wurde die Aktion durch den Skandal um Hollywoodproduzent Harvey Weinstein. Die US-Schauspielerin Alyssa Milano rief im Zuge der Debatte dazu auf. „Wenn alle Frauen, die sexuell belästigt oder genötigt wurden, ‚MeToo‘ als Status schreiben, könnten wir den Menschen das Ausmaß des Problems bewusst machen“, erklärte sie.

Der Weinstein-Fall reicht nun auch bis nach Deutschland, immer mehr Frauen erzählen von ihren Erlebnissen. Die Reaktionen gehen von Anteilnahme und Ablehnung bis hin zu der Frage, ob diese oder jene Bemerkung oder dieses oder jenes Verhalten sexistisch sei oder nicht. Die Bewegung erinnert an die Internetaktion „#Aufschrei“ aus dem Jahr 2013. Sexismus-Vorwürfe gegen den FDP-Politiker Rainer Brüderle lösten damals eine hitzige Debatte aus. Zu einer Reporterin des Magazins „Stern“ soll Brüderle mit Blick auf ihren Busen gesagt haben: „Sie können ein Dirndl auch ausfüllen.“ Damals wurde diskutiert, ob seine Bemerkungen ein „Altherrenwitz“ gewesen sei oder Sexismus.

Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung sieht akuten Handlungsbedarf: „Die überwältigende Resonanz auf ‚#MeToo‘ zeigt, wie groß das weltweite Ausmaß sexueller Gewalt gegen Frauen, Kinder und Jugendliche ist. Die Debatte kann gar nicht laut genug geführt werden“, sagte Johannes-Wilhelm Rörig dieser Redaktion. Auch in Deutschland müsse man von einem enormen Dunkelfeld ausgehen. Die polizeiliche Kriminalstatistik zählt allein für Kindesmissbrauch jährlich 12.000 Fälle. Neueste Studien gehen davon aus, dass etwa jede und jeder Siebte in Deutschland sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erlitten hat. Von der künftigen Bundesregierung fordert Rörig jetzt, ein „neues Kapitel im Kampf gegen sexuelle Gewalt aufzuschlagen“. „Missbrauch ist bekämpfbar, aber nicht mit den wenigen Mitteln, mit denen wir seit Jahren kämpfen.“

Auch deutsche Prominente gehören zu den Betroffenen. Wie das Model Marie Nasemann oder die Schauspielerin Jasmin Tabatabai. Nasemann schrieb auf Instagram: „Unangenehmes Thema, aber #MeToo. Ich war auf dem Oktoberfest, und der Typ griff mir im überfüllten Gang von hinten unters Dirndl zwischen meine Beine. Ich habe mich umgedreht und ihm eine Ohrfeige gegeben und ihn angebrüllt.“ Und Tabatabai machte deutlich: „Ich kenne keine Frau, bei der das nicht der Fall ist.“

Zur Verabschiedung der Griff an die Brüste

Die Schauspielerin Maren Kroymann wehrt sich im Gespräch mit dem Abendblatt gegen diejenigen, die die Kampagne abtun wollen. „Wir haben es hier mit Fällen zu tun, wo Frauen massiv von Männern sexuell bedrängt worden sind, bis hin zur Vergewaltigung, und das soll ein Frauenthema sein? Hallo?! Es ist ein Gesellschaftsthema!“ Die Frauen, die sich öffentlich bekennen, findet sie mutig. Denn oft lassen sich Frauen Übergriffe aus der Abhängigkeit heraus gefallen. „In unserer Branche kann eine Rolle über die Karriere entscheiden, vor allem für junge Schauspielerinnen. Da geht es eventuell um viel Geld und Anerkennung. Das macht die Situation gefährdeter und führt dazu, dass Frauen sich nicht trauen, sich zu wehren.“

Auch die Journalistin Franziska M. berichtet von der Schwierigkeit mit Sexismus im Berufsleben umzugehen. Auf einer Berlinale-Veranstaltung begrüßte sie eine „wichtige Person der deutschen Filmbranche“: „Wir kannten uns von vorherigen Interviews. Zur Verabschiedung fasste er mir grinsend mit beiden Händen an die Brüste.“ Sie sei schon früher sexuell belästigt worden, von Unbekannten auf der Straße, auf dem Oktoberfest. „Aber dieser Fall verstörte mich besonders, weil ich mich in einem geschützten professionellen Rahmen wähnte.“