Hannover.

Stephan Weil braucht nicht lange, um vor die Kameras zu treten. Es ist gerade einmal fünf Minuten nach sechs, als sich die Tür des Fraktionsbüros im Landtag öffnet, in dem der Ministerpräsident die erste Wahlprognose am Fernseher verfolgt hat. „Glückwunsch“ rufen ihm die Parteifreunde zu, als Weil die wenigen Meter in den Fraktionssaal zurücklegt. Dort muss er warten, bis er sich im Jubel Gehör verschaffen kann.

Weil strahlt, aber er bremst die Euphorie zunächst: „Ich rate allen, noch eine Sekunde lang den Ball flach zu halten“, ruft er. Man wisse von der vergangenen Wahl, dass die tatsächlichen Mehrheiten erst ganz spät am Abend feststehen. „Aber trotz allem wissen wir: Das ist ein großer Abend für die niedersächsische SPD.“ Sie ist wieder stärkste Partei – seit 19 Jahren das erste Mal.

Das Ergebnis ist in mehrfacher Hinsicht eine Sensation. Zum einen kehrt es den Trend der SPD der vergangenen Monate um: Nach drei verlorenen Landtagswahlen und einer dramatisch schlechten Bundestagswahl ist es der dringend erwartete und erhoffte Sieg. Zum anderen ist Ministerpräsident Weil in kurzer Zeit eine Aufholjagd gelungen, wie es sie lange nicht mehr gab. Monatelang hatte die CDU in den Umfragen fast uneinholbar vorn gelegen. Anfang August schien das Schicksal von Weil besiegelt zu sein: Da trat eine Grünen-Abgeordnete aus ihrer Fraktion und ihrer Partei aus und brachte die dünne Einstimmen-Mehrheit von Rot-Grün zu Fall. Alle Parteien einigten sich auf Neuwahlen.

Bei den Wählern herrschte keine Wechselstimmung

Weils durchschnittliche Regierungsbilanz und seine mäßigen Beliebtheitswerte hatten eine Wiederwahl höchst unwahrscheinlich erscheinen lassen. Bei der Aufklärung des VW-Skandals hatte er keine gute Figur gemacht und Reden von VW gegenlesen lassen. Mit einer Affäre um die falsche Vergabe von Regierungsaufträgen war die SPD monatelang in den Schlagzeilen. Mehrere Staatssekretäre mussten zurücktreten. Die Schulpolitik und die vielen ausfallenden Unterrichtsstunden sorgen bei Eltern noch heute für Verdruss.

Doch je näher der vorgezogene Wahltermin rückte, desto weniger wichtig wurde das alles. Weil und seine SPD schalteten schnell um auf Wahlkampf. Der Ministerpräsident trat so energisch und kampfeslustig auf, wie ihn die Niedersachsen lange nicht erlebt hatten. Dabei konnte er davon profitieren, dass es im Land keine echte Wechselstimmung gab. Umfragen zeigten, dass die meisten Wähler die SPD weiter in der Regierung sehen wollten.

Mehr noch: Dass eine einzelne Grünen-Abgeordneten eine Landesregierung und eine Koalition sprengte, kam bei den Wählern nicht gut an. Die Grünen verloren deutlich. Auch die CDU bekam die Quittung für ihr unentschiedenes Verhalten: Sie nahm die Abgeordnete zwar in ihre Fraktion auf, konnten die FDP aber nicht überreden, Weil sofort zu stürzen und Rot-Grün durch Schwarz-Gelb zu ersetzen.

Am Wahlabend aber ist von geknickter Stimmung bei den Konservativen nichts zu spüren. Mit fast noch größerem Jubel als bei der SPD wird Spitzenkandidat Bernd Althusmann empfangen, als er nach der ersten Hochrechnung im Landtag vor seine Anhänger tritt. Er gratuliert Weil zu seinem Sieg und sagt: „Wir müssen nicht in Sack und Asche gehen.“ Man habe sich vom Bundestrend abgekoppelt. Und er wagt die Prognose: „Rot-Grün ist abgewählt“.

Das Ergebnis ist in jedem Fall ein Dämpfer für die CDU. In Niedersachsen liegt sie jetzt auf dem Niveau von 1959. Althusmann macht dafür das schlechte Ergebnis der Bundestagswahl verantwortlich. Doch ihm sind im Wahlkampf auch handwerkliche Fehler unterlaufen. Dazu zählt unter anderem, dass Althusmann eine Live-Sendung im Fernsehen verpasste, weil er ins falsche Studio fuhr. In der Bildungspolitik, dem Hauptthema im Wahlkampf, konnte der ehemalige Kultusminister nicht punkten. Den Umfragen zufolge vertrauen die Wähler hier noch immer mehr den Sozialdemokraten als der CDU – auch wenn die amtierende Ministerin nach den Sommerferien in einer Hauruck-Aktion Gymnasiallehrer an Grundschulen abordnete, um die Personallücken zu stopfen.

Auch beim Thema Sicherheit lief es nicht gut. Der Landespolizeichef trat aus der CDU aus: Er hielt die Kritik seiner Partei, wonach die Landesregierung die Sicherheitsbehörden im Kampf gegen Islamisten ausgebremst habe, für falsch. Althusmann hatte Niedersachsen ein „Wohlfühlland für Islamisten“ genannt.

Spannend wird nun, wie aus dem Ergebnis eine Koalition wird. Am Wahlabend blieb zunächst unklar, ob SPD und Grüne im neuen Landtag eine Mehrheit haben. In den Hochrechnungen der ARD reichte es erst nicht für Rot-Grün, zwischendurch doch, dann wieder nicht. Am späten Abend hieß es, SPD und Grüne hätten eine Mehrheit „höchstwahrscheinlich verfehlt“.

Die FDP und ihr Spitzenmann Stefan Birkner könnten nun theoretisch mitregieren, hatten aber schon im Wahlkampf die Bildung einer Ampel-Koalition mit Grünen und SPD mehrfach ausgeschlossen. Daran halten die Freidemokraten auch am Wahlabend eisern fest. Das Argument: Man werde einer geschwächten Koalition nicht zum Weiterregieren verhelfen.

Die CDU und Bernd Althusmann spekulieren nun auf eine große Koalition. Mehrfach betont der Spitzenkandidat, er stehe bereit, Verantwortung zu übernehmen. Er selbst kündigt an, Fraktionsvorsitzender im Landtag werden zu wollen. Inhaltlich erscheint eine große Koalition nicht unwahrscheinlich. CDU und SPD liegen bei den meisten Themen ziemlich nah beieinander. Doch ein von beiden Seiten rustikal geführter Wahlkampf und Jahre der Opposition, in denen die Union auf Rot-Grün eingeprügelt und „Politik mit der Dachlatte“ gemacht hat, wie Weil es nennt, haben die Gräben vertieft.

Eine Jamaika-Koalition wie im Bund dürfte dagegen keine Chance haben. Die ohnehin vorhandene Abneigung zwischen den in Niedersachsen sehr linken Grünen und der hier sehr konservativen CDU ist groß. Die Aufnahme der übergelaufenen Abgeordneten hat sie noch größer werden lassen. „Der Auftrag, eine Regierung zu bilden, liegt offensichtlich bei der SPD“, sagt Althusmann dann auch.

Die große Siegerin der vergangenen Monate, die AfD, ist in Niedersachsen abgestürzt – jedenfalls verglichen mit der Bundestagswahl und mit vorangegangenen Landtagswahlen. Im Wahlkampf machte sie mit hausgemachten Skandalen auf sich aufmerksam. So wurde die Spitzenkandidatin von den eigenen Leuten unmittelbar vor der Wahl aus der Göttinger Kreistagsfraktion geworfen. Jetzt sitzt sie im Landtag in Hannover.