Istanbul/Berlin. Als erste von mehreren inhaftierten Deutschen steht Mesale Tolu vor Gericht. Die Bundesregierung fordert ihre Freilassung

Am Mittwochmorgen wird Mesale Tolu aus ihrer Zelle im Istanbuler Frauengefängnis Bakirköy in die 80 Kilometer enfernte Strafvollzugsanstalt Silivri gebracht. Türkische Prozessbeobachter werden später sagen, sie habe gefestigt gewirkt, selbstbewusst – so als sei sie froh, sich endlich selbst äußern zu können. Seit mehr als fünf Monaten sitzt die 32 Jahre alte Journalistin in Istanbul in Untersuchungshaft – mit ihrem zweijährigen Sohn Serkan.

Gleich zu Beginn des Prozesses weist die gegen sie erhobenen Terrorvorwürfe zurück. „Ich fordere meine Freilassung und meinen Freispruch“, sagt Tolu. „Ich habe keine der genannten Straftaten begangen und habe keine Verbindung zu illegalen Organisationen.“

Es ist der erste Prozess gegen eine der insgesamt mindestens elf Deutschen, die aus politischen Gründen in türkischen Gefängnissen einsitzen. Es ist ein Tag, der einmal mehr die Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei belastet. Nach dem Satire-Streit um das Gedicht von Jan Böhmermann, der Verabschiedung der Armenien-Resolution im Bundestag und die Beeinflussungsversuche des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan auf die Bundestagswahl – die deutsch-türkischen Beziehungen verschlechtern sich seit Jahren. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 geht die türkische Regierung gegen tatsächliche und angebliche Terrorverdächtige vor. Der Bundesrepublik wirft Erdogan vor, die kurdische PKK und andere Terroristen zu unterstützen. Die Beitrittsbemühungen der Türkei zur EU liegen auf Eis.

Was wird Mesale Tolu vorgeworfen?

Sie ist eine von 18 Angeklagten, denen Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der linksextremen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei (MLKP) vorgeworfen werden. Die Staatsanwaltschaft fordert 15 Jahre Haft. Sie sagt, Tolu habe an einer Demonstration der MLKP teilgenommen und sei bei Beerdigungen von getöteten Kämpfern der linksextremen Organisation gesehen worden. Die Anklageschrift enthält Fotos, die Tolu bei einer Gedenkfeier für eine in Syrien getötete deutsche Kämpferin der kurdischen Miliz YPG zeigen sollen. Tolu sagt, sie war dort als Journalistin. Mesale Tolu hat bereits im Jahr 2007 die türkische Staatsbürgerschaft abgelegt und den deutschen Pass angenommen. Für die türkische Regierung spielt das keine Rolle.

Die in Neu-Ulm geborene Tolu ging Ende 2014 nach der Geburt ihres Sohnes in die Türkei und arbeitete dort als Übersetzerin und Journalistin, zuletzt für die linksgerichtete Nachrichtenagentur ETHA, deren Webseite zwischenzeitlich gesperrt wurde, die aber bis heute nicht verboten ist. Tolu wurde am 30. April festgenommen. Eine Spezialeinheit der Anti-Terror-Polizei stürmte ihre Wohnung im Istanbuler Stadtteil Kartal. Sohn Serkan musste die Frau bei unbekannten Nachbarn abgeben. Dann nahm die Polizei sie mit. Ihr Mann Suat Corlu war bereits zwei Wochen zuvor festgenommen worden. Auch ihm wird Mitgliedschaft in der MLKP vorgeworfen, er sitzt in Silivri in Untersuchungshaft.

Wie geht es Mesale Tolu und
ihrem Sohn in der Haft?

Mesale Tolu sprach im Gerichtssaal auch über ihr Kind. „Die Untersuchungshaft ist nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie und für meinen Sohn zur Bestrafung geworden.“ Serkan verbrachte die meiste Zeit der vergangenen fünf Montate mit der Mutter in der Haft. „Der Junge wollte am liebsten bei seiner Mutter sein“, sagt Baki Selcuk, ein Freund der Familie. Ab und zu nimmt sein Großvater Ali Riza ihn mit auf Ausflüge in die Stadt. Dann bringt er das Kind auch zu dessen Vater Suat Corlu. „Am Montag wurde der Sohn von Verwandten abgeholt“, sagt Selcuk, „die Familie wollte ihm ersparen, dass er mit zum Gerichtssaal muss.“

Mesale Tolu teilt sich ihre Zelle mit zeitweise bis zu 24 anderen weiblichen Gefangenen. Sie darf Post bekommen. „Mittlerweile haben sie über 500 Briefe und Postkarten erreicht“, sagt Baki Selcuk. Ali Rıza Tolu besuche seine Tochter jede Woche im Gefängnis. „Aber die erlaubte Besuchszeit ist von anfangs einer Stunde auf 45 Minuten und kürzlich weiter auf 30 Minuten gekürzt worden.“

Was tut die Bundesregierung
für Tolus Freilassung?

Obwohl Tolu als deutsche Staatsbürgerin Anspruch auf konsularische Betreuung hat, informierten die türkischen Behörden im April das deutsche Konsulat in Istanbul zunächst nicht über die Festnahme – ein klarer Verstoß gegen die Wiener Konvention. Zwei Monate Haft verstrichen, bis deutsche Diplomaten die Frau besuchen durften. Einen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls lehnte ein Istanbuler Gericht am 27. August ab. Ihr Vater fordert mehr Einsatz der Bundesregierung, die ihrererseits mehrfach Tolus Freiheit gefordert hat. Seit der Bundestagswahl sei wenig passiert im Falle seiner Tochter, beklagt der Vater.

Auf der praktischen Ebene, was konsularische Betreuung betrifft, tut die Regierung ihr bestes, sagt Christian Mihr von der Organisation „Reporter ohne Grenzen“. Er habe vor Ort erfahren, wie sich die Regierungsvertreter in Istanbul für die Gefangenen einsetzen. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte zuletzt in einem Interview Signale für eine Entspannung der deutsch-türkischen Beziehungen gesendet. „Das habe ich so interpretiert“, sagt Mihr, „dass sie Fälle wie den von Mesale Tolu schnell abwickeln wollen.“ Ein echtes Signal für eine Entspannung allerdings wäre es laut Mihr, wenn es bei ihr zu einem Freispruch käme. „Ich kann mir aber vorstellen, dass zuerst die Untersuchungshaft für sie ausgesetzt wird.“ Mesale Tolu könnte dann nach Hause, müsste aber in Istanbul bleiben.

Welche Deutschen sind noch in
türkischer Haft?

Von mindestens elf Deutschen ist offiziell die Rede. Die Dunkelziffer dürfte noch höher sein. Doch die Bundesregierung hält sich hierzu bedeckt, auch um den Persönlichkeitsschutz der Betroffenen zu gewährleisten. Der bekannteste Fall ist der des „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel. Er wurde im Februar inhaftiert, eine Anklage liegt bis heute nicht vor. Offiziell steht der 44-Jährige im Verdacht der Terrorpropaganda und der Volksverhetzung. Staatspräsident Erdogan bezeichnete ihn zudem als deutschen Spion.

Auch Peter Steudtner wartet auf seinen Prozess. Der 46 Jahre alte Menschenrechtler wurde gemeinsam mit weiteren Menschenrechtsaktivisten am 5. Juli bei einem Workshop in Istanbul festgenommen. Bekannt wurde zudem noch der Fall des 55-jährigen David B. aus Schwerin, der bereits im April in der Türkei festgenommen. Er war auf eine Pilgerreise nach Jerusalem aufgebrochen – aus Mecklenburg-Vorpommern über Polen und Bulgarien in die Türkei gereist. Er wollte mit der Reise auf Minderheiten und Verfolgte aufmerksam machen. Bis heute ist nicht bekannt, welche Vorwürfe die türkischen Behörden gegen David B. erheben.

Was tut sich im Fall Deniz Yücel?

Deniz Yücel ist mittlerweile seit acht Monaten in Haft, seine Frau Dilek besucht ihn einmal pro Woche, und alle zwei Wochen kann sie mit ihm am Telefon sprechen. Am Mittwoch war wieder einer dieser Tage. „Er klang gut und stark“, sagte sie dieser Zeitung, „und wenn das so ist, geht es mir auch gleich wieder besser.“ Das Telefonat dauerte sekundengenau 10 Minuten und brach wie immer mitten im Satz ab. Sie reden über die Bücher, die sie gemeinsam lesen und sprechen über den Zuspruch und die Zeichen der Solidarität, die Deniz noch immer aus Deutschland bekommt.

Ob sie Hoffnung daraus schöpfe, dass es im Fall Mesale Tolu jetzt zum Prozess kam? „Ehrlich gesagt, nein, denn bei Deniz liegt der Fall völlig anders“, sagt Dilek Mayatürk-Yücel. „Seine Anwälte haben noch nicht einmal eine Anklageschrift bekommen.“ Deniz wisse also nach wie vor nicht, wie es weiter gehen soll in seinem Fall. Er schreibe viel, darf inzwischen fernsehen und mache viel Sport. Aber die Langzeitfolgen der Einzelhaft könne niemand bisher abschätzen, sagt sie. „Es macht überhaupt keinen Sinn, dass er in Haft ist.“

Welches Ziel verfolgt Erdogan ?

Schon seit längerem wächst in der deutschen Politik der Verdacht, Staatspräsident Erdogan könnte die deutschen Staatsangehörigen als mögliches Faustpfand festhalten. Für Grünen-Chef Cem Özdemir ist der türkische Staatspräsident daher „kein Präsident, sondern ein Geiselnehmer“. Fakt ist: Erdogan fordert die Auslieferung von Terrorverdächtigen aus Deutschland. Auch verlangt Ankara die Auslieferung türkischen Journalisten Can Dündar. Der Ex-Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“ lebt seit Sommer 2016 in Berlin im Exil. In der Türkei wurde er im Mai 2016 wegen Geheimnisverrats zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt, worauf Dündar Revision einlegte. Von einer Europareise kehrte er nicht dann nicht mehr in die Türkei zurück. Auch Dündar bezeichnete Tolu gegenüber der „Bild“-Zeitung vor Prozessbeginn als „Geisel“ von Präsident Erdogan. „Wahrscheinlich, um Stärke zu demonstrieren, oder aber, um sie für einen möglichen Austausch einzusetzen.“ Im Sommer hieß es, Erdogan sei bereit Yücel die Freiheit zu schenken, wenn die Bundesregierung Erdogan zwei nach Deutschland geflüchtete Ex-Generäle der türkischen Armee überlasse. Doch damals wie heute gilt: Geschäfte mit Menschen sind für die Bundesregierung undenkbar.