Barcelona.

Er hatte die Tausenden Demonstranten vor dem Parlament mehr als eine Stunde warten lassen. Um kurz nach 19 Uhr tritt der katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont vor das Rednerpult im Regionalparlament in Barcelona und pocht auf die Abspaltung Kataloniens von Spanien. „Ich möchte den Weg der Unabhängigkeit gehen.“ Er ruft die Parlamentarier dazu auf, für diese Entscheidung zu stimmen. Doch Puigdemont sagt auch: Der Prozess der Abspaltung sei vorerst ausgesetzt. „Ich bitte die spanische Regierung, dass sie in den Dialog tritt.“

Unabhängigkeit ja, aber nicht jetzt – so lässt sich Puigdemonts Rede zusammenfassen. Offenbar ist es ein Zugeständnis an all jene in Katalonien, Spanien und auch in Europa, die Puigdemont in den letzten Tagen bekniet hatten, die Abspaltung nicht sofort zu verkünden. Also eine Art „Unabhängigkeitserklärung light“. Noch in der Nacht unterzeichnet er ein Dokument, das die Uanbhängigkeit erklärt – und aussetzt.

Doch Puigdemont macht nicht nur Zugeständnisse. Er greift auch an. Vor allem die Zentralregierung in Madrid. Diese habe jeden Versuch des Dialogs von Seiten Kataloniens abgelehnt: „Die Antwort war immer eine radikale und absolute Weigerung, kombiniert mit einer Verfolgung der katalanischen Institutionen“, sagt der katalonische Regierungschef. An alle Spanier gerichtet, fügt er hinzu: „Wir sind keine Verbrecher, keine Verrückten, keine Putschisten.“

Die spanische Regierung wies Puigdemonts Worte kurz nach der Rede zurück. Die „implizite“ Erklärung der Unabhängigkeit Kataloniens sei „unzulässig“, erklärte ein Sprecher. Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy will sich heute erklären.

Am Dienstagabend spricht Puigdemont länger als eine halbe Stunde vor den Parlamentariern, erklärt die Motive für das Streben nach Unabhängigkeit und rechtfertigt das Referendum. „Dieses Parlament verteidigt das Recht auf Selbstbestimmung.“ Minutenlanger Beifall braust in den Reihen der Separatisten auf. Die anderen schweigen.

Auch draußen vor den Toren des Geländes jubeln Tausende Anhänger der Unabhängigkeitsbewegung. Sie verfolgen die Rede Puigdemonts auf Großbildleinwänden. Schon am Nachmittag hatten sie sich versammelt und „independència“ (Unabhängigkeit) skandiert. Die beiden großen Plattformen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegungen, die Assamblea Nacional Catalana (ANC) und Òmnium hatten zu den Demonstrationen aufgerufen. Hunderte gelb-rote Fahnen mit dem Unabhängigkeitsstern wehen im Wind.

„Ich bin nicht gerade glücklich über das, was Puigdemont gesagt hat, aber wahrscheinlich war es das Klügste“, sagt Demonstrant Sergi Rouira direkt nach der Rede. „Jetzt gibt es eine letzte Chance für Gespräche“, hofft er. „Aber am Ende kann nur die volle Unabhängigkeit stehen“, fügt er hinzu. Eine Bilanz wie Sergi ziehen viele Anhänger der Abspaltung – eine Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung.

Auch einige Gegner der Unabhängigkeit sind gekommen, die hier für die andere Hälfte der katalanischen Bevölkerung sprechen: „Nein, zur Unabhängigkeit“, prangt auf ihrem Transparent. Polizisten postieren sich zwischen den beiden Lagern.

Bestrebungen nach mehr Autonomie oder gar Unabhängigkeit gibt es schon seit 1469 – seit Katalonien durch die Heirat von Isabell von Kastilien und Ferdinand von Aragon de facto zum heutigen spanischen Staatsverband kam. Katalonien gehörte damals zu Aragon. Und das auf das Mittelmeer ausgerichtete recht liberale Königreich stand von Beginn an im Gegensatz zum nach Zentralismus strebenden Kastilien, genoss aber weitgehende Selbstständigkeit. Damit war es vorbei, als Barcelona am 11. September 1714 durch ein französisch-spanisches Heer im Spanischen Erbfolgekrieg erobert wurde. Katalonien war im Krieg mit England verbündet und verlor nun alle Sonderrechte. Der 11. September wird heute als Nationalfeiertag „La Diada“ begangen. Das Erstarken der aktuellen Unabhängigkeitsbewegung speist sich aber vor allem aus einem Datum:


28. Juni 2010 Als Schlüsselerlebnis, das die Abneigung gegenüber Spanien verstärkte, gilt vielen Katalanen die Annullierung der katalanischen Regionalverfassung, des „Estatuto de Autonomía“, 2010 durch Spaniens Verfassungsgericht: ein Autonomiestatut, das 2006 per Referendum in Katalonien und sogar von der Mehrheit des spanischen Parlaments gebilligt worden war. Doch Spaniens konservative Volkspartei unter dem damaligen Oppositionsführer und heutigem Regierungschef Rajoy zog vor das Verfassungsgericht und kippte dieses Statut. Dies ließ viele Katalanen rot sehen. Deswegen wird Rajoys Partei heute als „wichtigster Fabrikant der Unabhängigkeitsbestrebungen“ bezeichnet.

Dezember 2011 Mariano Rajoy und seine PP kommen an die Macht. Es gibt kaum noch Gespräche der Zentralregierung mit der Region im Nordosten des Landes. Rajoy verfügte im Parlament über eine absolute Mehrheit und musste deshalb nicht mit Zugeständnissen auf Stimmenfang in Katalonien gehen. Er konzentrierte sich vor allem darauf, die 2008 ausgebrochene massive Wirtschaftskrise seines Landes in den Griff zu bekommen. Da passte der Wunsch nach mehr finanzieller Unabhängigkeit der Katalanen nicht in sein Konzept. Vorstöße auf mehr Selbstverwaltung hat er stets mit einem „No“ beantwortet.

Die Menschen im wirtschaftsstarken Katalonien sind vor allem wütend über die Korruptionsskandale der Regierung und wettern, Rajoy und seine Verbündeten verfolgten noch immer die gleichen Ziele wie die Franco-Diktatur. Unter der Herrschaft Francisco Francos, der 1975 starb, waren die katalanische Sprache und Kultur teilweise brutal unterdrückt worden.


September 2015 In der Regionalwahl gewinnen separatistische Parteien 48 Prozent der Stimmen und erhalten damit die Mehrheit der Sitze im Regionalparlament. Dieses verabschiedet am
9. November eine Entschließung: Binnen 18 Monaten sollen alle Vorbereitungen getroffen sein, damit Katalonien seine Unabhängigkeit ausrufen kann.


Januar 2016 Puigdemont wird als neuer katalanischer Hoffnungsträger zum Chef der Regionalregierung gewählt. Als er im Juni 2017 bekannt gab, am 1. Oktober ein Referendum über die Unabhängigkeit abzuhalten, sahen viele Katalanen ihre Stunde gekommen.


6. September 2017 Die Unabhängigkeitsfront im Parlament beschließt, dass ein Sieg der Ja-Stimmen beim Referendum automatisch die Unabhängigkeit zur Folge habe. Die Separatisten haben aber noch eine Hintertür für einen Zeitplan oder Verhandlungen mit Spanien offen gelassen. Man werde im Parlament nach der Unabhängigkeitserklärung „die Auswirkungen konkretisieren“, heißt es im Gesetz.


7. September 2017 Spaniens Verfassungsgericht erklärt das Referendum wie auch das dazugehörige Referendumsgesetz für illegal. Puigdemont und seine Weggefährten stört das nicht. „Wir erfüllen nur den Willen des katalanischen Parlaments“, sagt er. Die spanische Verfassung und Gerichtsbarkeit wird von der katalanischen Regierung nicht mehr anerkannt. Deswegen laufen bereits strafrechtliche Ermittlungen gegen Puigdemont und andere Verantwortliche. Ihnen könnte wegen Rechtsbeugung, Ungehorsam und Rebellion der Prozess gemacht werden. Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy drohte für den Fall einer Unabhängigkeitserklärung bereits an, dass Madrid per Verfassung die spanische Zentralregierung die Kon­trolle in der Region übernehmen werde.


1. Oktober 2017 Bei dem Referendum stimmten nur 43 Prozent der Berechtigten ab. Die spanientreuen Parteien hatten dieses Plebiszit boykottiert. Deswegen stimmten fast nur die Unabhängigkeitsanhänger ab. 90 Prozent der Teilnehmer antworteten auf die Frage „Soll Katalonien ein unabhängiger Staat in Form einer Republik werden?“ mit Ja. Die Polizei ging rabiat gegen Wahllokale und Wähler vor – und lieferte so weitere Argumente für die Befürworter der Unabhängigkeit Kataloniens. Einen Dialog und Verhandlungen, wie von Puigdemont am Dienstagabend wieder ins Spiel gebracht, hatte Spaniens Regierung immer abgelehnt. Mit Rechtsbrechern könne man nicht verhandeln, heißt es.