Berlin.

Der Tag für die Kanzlerin beginnt früh: Angela Merkel trifft schon um acht Uhr morgens ein, sie ist damit die Erste im Konrad-Adenauer-Haus. CDU-Generalsekretär Peter Tauber kommt später, in legerer Jacke, Jeans und Schiebermütze. Auch Fraktionschef Volker Kauder und Kanzleramtschef Peter Altmaier (beide CDU) fahren vor, ein Statement gibt keiner ab.

Bayerns Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer kommt gegen elf, lässt sich von seinem Fahrer in der Limousine direkt in die Tiefgarage fahren. Mit seinen Vertrauten beriet er am Sonnabend die Positionen der CSU. Am Sonntagmorgen will er zunächst mit Merkel alleine sprechen.

Mehr Zeit hat hingegen CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer. Er redet mit einer Handvoll Demonstranten, die sich unter den Augen der Polizei vor der CDU-Zentrale eingefunden haben und für mehr Volksentscheide plädieren. „Wir haben das in unserem Bayernplan“, betont er lachend. Und scherzt mit den Kameraleuten und Journalisten: „Habt ihr eure Schlafsäcke dabei?“

Es wird in der Tat lang an diesem Sonntag: CDU und CSU ringen um eine konservativere Ausrichtung vor Jamaika-Verhandlungen mit Grünen und FDP. Die Gespräche am Sonntag im fünften Stock des Konrad-Adenauer-Hauses gestalten sich zäh und langwierig und dauern bis zum Abend an. Zu zehnt sitzt man zusammen, je fünf Spitzenpolitiker pro Partei. Beraten wird im kleinen Kreis. Mitarbeiter sind nicht dabei. Von einer „konstruktiven“ Atmosphäre ist die Rede. Aber auch von lauteren Diskussionen hinter verschlossenen Türen.

Das Wort Obergrenze kommt in dem Kompromiss nicht vor

Am späten Nachmittag berät man nach Lagern getrennt, das gemeinsame Gespräch stockt. Dann heißt es, Merkel habe einen Zuwanderungskompromiss vorgelegt, der verschiedene Aspekte der Zuwanderung verknüpfe und für die CSU akzeptabel sein könne. Es kommt zu einem Gespräch zwischen Merkel und Seehofer. Das wird als hoffnungsfrohes Zeichen gewertet. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) wird dazugeholt. Es gehe darum, mit ihm die Lösung „niet- und nagelfest“ zu gestalten und die Umsetzung sicherzustellen.

Dann dringt nach draußen, man habe sich auf ein Paket zur Migrations-, Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik geeinigt. Pro Jahr sollen 200.000 Menschen aus humanitären Gründen und beim Familiennachzug aufgenommen werden, heißt es in dem Abschlusspapier, das dieser Redaktion vorliegt. Der Familiennachzug zu subsidiär Geschützten, also bei Flüchtlingen mit eingeschränktem Schutzstatus, bleibt ausgesetzt, heißt es in dem Papier weiter. Das Wort Obergrenze wird darin nicht verwendet.

Vereinbart wurde zudem, dass für alle neu ankommenden Asylsuchenden in Deutschland die Asylverfahren „in Entscheidungs- und Rückführungszentren nach dem Vorbild der Einrichtungen in Manching, Bamberg und Heidelberg gebündelt“ werde. Sollte das Ziel „wider Erwarten durch internationale oder nationale Entwicklungen nicht eingehalten werden“, so steht es weiter in dem Papier, „werden die Bundesregierung und der Bundestag geeignete Anpassungen des Ziels nach unten oder oben beschließen.“ Dieser Passus ist Merkels Hintertür, um gegebenenfalls die Begrenzung wieder auszuhebeln.

Der CSU-Politiker und Bayerns Innenminister Joachim Herrmann hatte vor dem Treffen auf die Frage, ob die Schwesterparteien vor der schwierigsten Situation seit ihrem Kreuther Trennungsbeschluss von 1976 stünden, gesagt, es sei eine „nicht ganz einfache Situation“. Richtig. Es ist ein Showdown zwischen den Schwesterparteien, wie man ihn lange nicht erlebt hat.

Es geht nach dem miesen Wahlergebnis – die Union insgesamt fuhr mit 32,9 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 ein, die CSU musste in Bayern ein Minus von 10,5 Prozent verbuchen – um Grundsätzliches. Um den künftigen Kurs, die Grundausrichtung der Union.

Seehofer, dessen politisches Schicksal gerade ungeklärt ist und der in Bayern massiv unter Druck steht, hat sich munitioniert. Er geht mit einem Zehn-Punkte-Plan in die Gespräche, der in der Nacht zu Sonnabend publik wird und Merkel überrascht. Nicht abgestimmt gewesen sei das, heißt es in der CDU. Die CSU fordert darin eine Hinwendung zu klassisch-konservativen Themen wie Leitkultur und Patriotismu. Die Bundestagswahl sei eine „Zäsur“ gewesen, beginnt das Papier. „Wer jetzt ‚Weiter so‘ ruft, hat nicht verstanden und riskiert die Mehrheitsfähigkeit von CDU und CSU“. Es ist ein klarerer Seitenhieb gegen Merkel.

In Punkt sechs ist der umstrittene Begriff Obergrenze enthalten. Im weiteren Text heißt es dann: „Deshalb brauchen wir eine bürgerliche Ordnung der Freiheit: das heißt einen durchsetzungsfähigen Staat, eine klare Begrenzung der Zuwanderung und einen Richtungspfeil für die Integration.“

Ob dies die Brücke für einen Kompromiss zwischen Merkel und Seehofer war? Auch die Kanzlerin brachte sich zuvor in Stellung. Beim Deutschlandtag der Jungen Union in Dresden gibt sie am Sonnabend ihren Fahrplan vor: Auch wenn die Einigung mit der CSU wie die „Quadratur des Kreises“ erscheine, sie wolle dafür kämpfen und dann gemeinsam in die Verhandlungen mit FDP und Grünen gehen. Merkel betont: „Auf Neuwahlen zu setzen und mit dem Wählervotum zu spielen, davon kann ich nur dringendst abraten.“

Merkel will für die Sondierung mit FDP und Grünen kämpfen

Auch die Kanzlerin sieht sich innerparteilicher Kritik ausgesetzt. Seit sie am Tag nach dem großen Stimmenminus für die Union gesagt hatte, sie könne „nicht erkennen, was wir jetzt anders machen müssten“, schütteln viele auch in den Führungsreihen den Kopf. Dass die breite Kritik Merkel nicht kalt lässt, ist nun zu spüren. Ausführlich begründet sie, warum sie nach der Wahl falsch verstanden worden sei. „Ich muss mit dem Satz leben“, sagt sie, bittet aber, ihre gesamte Fehleranalyse wahrzunehmen. Sie betont die bürgerliche Ausrichtung: „Ich stehe dazu, dass rechts von der Union keine Partei sein sollte.“ Gleichzeitig macht sie deutlich, dass sie zu ihrer Flüchtlingspolitik steht. „Wer glaubt, ich hätte für zwei Selfie-Fotos die Leute eingeladen – das ist Kinderglaube, das ist nicht in Ordnung.“

Ob sich diese Unterschiede bei „Züricher Geschnetzeltem“ und „Saisonalen Süppchen mit Brotzeitplatte“ lösen lässt? Ein Mitarbeiter der CDU-Zentrale scherzt: Für den frühen Morgen lägen Tic-Tac-Bonbons bereit.