Freital.

Die Ladung explodiert um 0.50 Uhr. 55 Gramm, ein Gemisch aus Kaliumperchlorat, Schwefel und Aluminium. Wer einen Meter entfernt steht, dem kann die Pyrotechnik „Cobra 6 Topf“ Lunge oder Darm zerreißen, mit tödlichen Folgen. Noch bei drei Metern Entfernung platzt das Trommelfell. Splitter aus Glas verursachen schwere Schnittwunden – treffen sie das Auge, kann ein Mensch erblinden. Dass dem Syrer Alhamoud A. nicht mehr passiert ist, sei „als besonders glücklicher Umstand zu betrachten“. So werden es später die Rechtsmediziner festhalten.

Alhamoud A. liegt in dieser späten Nacht des 1. November 2015 im Schlafanzug in seinem Bett in der Flüchtlingsunterkunft in der Wilsdruffer Straße 127 im sächsischen Freital, als sich am Fenster seines Zimmers ein Feuerblitz entlädt. Glasscherben fliegen durch den Raum. Alhamoud spürt ein Brennen in den Augen, Tränen sammeln sich. Er rennt aus dem Raum in den Flur.

Bei der Recherche in Freital werden manche Anwohner sagen, dass der Anschlag auf das Asylbewerberheim eine „dumme Aktion“ von „Spinnern mit großer Fresse aber nichts dahinter“ gewesen sei. Dass Gewalt zu verurteilen sei. Nur müsse die Polizei gleich mit Spezialkommando anrücken, weil einer „irgendwo Polenböller hinschmeißt“?

Es wird bei der Frage nach dem Warum viel von 40 Jahren DDR gesprochen, in denen man das Gefühl der Ohnmacht schon erlebt habe, viel von der Wut auf Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der Sorge, dass sich dieses Land verändert. Manche wollen gar nicht über die Anschläge sprechen. Andere sagen, Freital sei viel mehr als nur das. Über Rassismus und Rechtsextremismus redet kaum einer.

Im Gerichtssaal in Dresden sitzt Timo S. in rotem Hemd und schwarzem Jackett auf der Anklagebank. Neben ihm Patrick F. und Philipp W., dahinter fünf weitere Angeklagte im Alter von 19 bis 39 Jahren. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen versuchten Mord vor. Und: die Gründung einer Terrorgruppe.

„Gewalttätige Attacken gegen jeden Asylanten“

Seit einem halben Jahr läuft der Prozess. Über die Flachbildschirme im Saal flackern an diesem Verhandlungstag die Hassbotschaften der „Gruppe Freital“, die sie in ihren geheimen Chatgruppen austauschten:

„Gewalttätige Attacken gegen jeden Asylanten und deren Unterstützer.“

„Kanacken sind fehlerhafte biologische Einheiten die müssen vernichtet werden“

„Ausländer töten!“

„Diesel brennt auch gut“

„Altöl auch“

Die Eskalation in Freital, eine Stadt mit 40.000 Einwohnern, ist ein Teil einer deutschen Chronik zur Flüchtlingskrise der vergangenen Jahre. Es ist das hässliche Kapitel. Freital, Heidenau, Clausnitz, Bautzen. Pöbeleien, Übergriffe, Ausschreitungen. Die Anklage gegen die Gruppe um Timo S. zielt darauf ab, dass diese Gewalt auch einen Plan hatte. Dass sie nicht immer „spontan“ war. Aber wie kam es dazu? Warum in Sachsen? Wer Antworten sucht, muss mit Menschen sprechen, die den Hass erlebten. Mit Politikern, Anwohnern, Opfern.

Am 6. März 2015 steht Michael Richter vor dem Hotel „Leonardo“ in Freital, das schon seit einiger Zeit niemanden mehr beherbergt. Der Linke-Politiker und ein paar Dutzend andere heißen die Flüchtlinge willkommen. Vorbereiten konnten sie wenig, erst seit 48 Stunden ist klar, dass hier Syrer, Iraker und Eritreer wohnen sollen.

2015: Die Zahl der Schutzsuchenden, die nach Deutschland kommen, steigt schnell. Aber Unterkünfte für Asylbewerber gibt es wenig, sie wurden in den Jahren zuvor abgebaut. Die Behörden entscheiden ohne Langzeitplan, Städte und Kommunen kämpfen für sich. „Wir haben gleich am Anfang eine Chance verpasst“, sagt Richter: Den Menschen zu erklären, was passiert.

Auf der anderen Seite von Richter ziehen im März 2015 rund 1500 Freitaler in Richtung Hotel „Leonardo“. Schnell wird die Stimmung hitzig, Böller fliegen. In den Wochen danach laufen die Asylgegner immer wieder vor dem Heim auf. Mit ihnen marschiert Timo S. Er ist „Ordner“.

Im Prozess sagten Mitglieder der „Gruppe Freital“ aus, dass S. ihr Anführer gewesen sei. Manche in der Stadt sagen heute, dass S. kein Freitaler sei. Ein Zugezogener. Und erst mit ihm sei auch die Gewalt gekommen. Timo S. kommt aus dem Hamburger Bezirk Bergedorf. Mit Anfang 20 nimmt er schon hier Kontakt zur rechtsextremen Szene auf. Als er nach Sachsen zieht, spürt Timo S. Aufwind für seinen rechtsradikalen Kampf. In der Region agieren schon seit der Wendezeit organisierte Kameradschaften. In der Sächsischen Schweiz holte die NPD bei der Wahl 2013 ihr bestes Ergebnis. Am Wochenende steht S. bei Dynamo Dresden in der Kurve. Pyrotechnik gehört zur Fanausstattung wie Schal und Fahne.

Er lernt seinen Busfahrerkollegen Phillip W. kennen, der über Gewalt gegen Ausländer fabuliert. Die Freitaler marschieren bei Pegida mit. Timo S. findet neue rechte Freunde. Sie gründen eine „Bürgerwehr“ und passend dazu eine Chatgruppe. Manchmal laufen auf den Anti-Asyl-Aufmärschen in Freital Anwohner neben Neonazis, andere versuchen, auf Distanz zu den rechtsradikalen Schreihälsen zu gehen. Aus Dresden reist die Antifa an. Freital wird zur Frontstadt in der Flüchtlingskrise. Timo S. und den anderen in der Chatgruppe beschließen: Ihnen reicht der Protestmarsch nicht mehr.

Im Juli 2015 zündet nachts ein Sprengsatz mit illegaler Pyrotechnik im Auto von Michael Richter. Im September explodiert ein Sprengkörper an dem Küchenfenster einer Flüchtlingsunterkunft. Im Oktober fliegen Pflastersteine und Pyrotechnik auf ein linkes Wohnprojekt in Dresden. Am 1. November dann der Angriff auf die Unterkunft in der Wilsdruffer Straße. In Freital organisierte auch ein NPD-Stadtrat den Protest – und ein ehemaliger Mitarbeiter im örtlichen AfD-Büro. Die AfD erzielte hier bei der Bundestagswahl 35 Prozent, stärkste Kraft. Wie in Heidenau. Wie in Bautzen.

Eisdiele, Supermärkte, Begrüßungsgeld für Babys

Wer durch Freital geht, sieht eine Kleinstadt mit Eisdiele, Restaurants und Kneipen. Es gibt Supermärkte und eine Polizeiwache. Sogar eine riesige Wasserrutsche im Schwimmbad haben sie neu gebaut. Für Neugeborene gibt es ein „Begrüßungsgeld“ von 100 Euro. Hier im Speckgürtel von Dresden liegt die Arbeitslosenquote bei sechs Prozent, die höchste im Landkreis, aber sie sinkt seit Jahren. Trifft die Geschichte der Abgehängten wirklich zu?

Man habe gewusst, wer die Extremisten in der Stadt sind, sagt Linkspolitiker Richter. Man habe geahnt, dass sie hinter den Angriffen stecken. „Aber wir konnten nichts beweisen.“

Timo S. und die anderen hingen immer wieder an der Aral-Tankstelle in Freital ab. Von hier fuhren sie auf Demonstrationen, hier rekrutierten sie neue Mitglieder für ihre Chats. Die Tankstelle liegt mitten an der Hauptstraße. Die Kassiererin sagt, die hätten auf dem Parkplatz immer ihr Bier getrunken. Mehr wisse sie nicht. Linke-Politiker Richter sagt, man wusste, dass sich dort die Rechten treffen. Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite, liegt die Wache der Polizei.