Berlin. Am Einheitstag ruft Bundespräsident Steinmeier die Deutschen zum Zusammenhalt auf – und sieht in der Bundestagswahl eine Mahnung

Miguel Sanches

Denkt er an den Wahlabend des 24. September, dann wird Frank-Walter Steinmeier noch um den Schlaf gebracht. Besorgt ist der Bundespräsident, besorgt um den Zusammenhalt. Er sieht ein Land „durch das sich unübersehbar große und kleine Risse ziehen“. Und der neue Bundestag spiegle die schärferen Gegensätze und die Unzufriedenheit wider, „die es in unserer Gesellschaft gibt“. Er glaubt, dass die Debatte rauer werde und sich die politische Kultur verändere. Das musste einfach mal raus – am Dienstag in Mainz bei der zentralen Feier zur deutschen Einheit. „Ich finde, auch an einem Feiertag dürfen wir nicht so tun, als sei da nichts geschehen: Abhaken und weiter so!“ Es ist nicht Steinmeiers Art.

Die Neuvermessung der Demokratie ist sein Thema

Erst im März hatte er sein Amt übernommen und danach in erster Linie außenpolitische Akzente gesetzt. Nun hat er mit der ersten großen Rede in der Mainzer Rheingoldhalle vielleicht seine innenpolitische Aufgabe gefunden: Die Neuvermessung der Demokratie. Zumindest deutet einiges darauf hin. Bereits mitten im Wahlkampf hatte Steinmeier vor einer Verrohung der politischen Kultur gewarnt und in Schloss Bellevue ein Forum zur „Zukunft der Demokratie“ initiiert – eine Diskussionsreihe, angelegt auf zwei Jahre, je zwei bis drei Veranstaltungen pro Jahr.

Die rechtspopulistische AfD erwähnt Steinmeier zwar mit keinem Wort, aber nur sie kann gemeint sein, wenn er in Mainz seine Klage anstimmt: Über neue und andere Mauern, die entstanden seien, „weniger sichtbare, ohne Stacheldraht und Todesstreifen – aber Mauern, die unserem gemeinsamen ‚Wir’ im Wege stehen“. Er meint die Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung, Wut, hinter denen tiefes Misstrauen geschürt werde, gegenüber der Demokratie und ihren Repräsentanten.

Zugleich spricht Steinmeier von den „Mauern zwischen unseren Lebenswelten“, zwischen Stadt und Land, online und offline, Arm und Reich, Alt und Jung. Für alle diese Entwicklungen kann er unmöglich die AfD verantwortlich machen. Der Bundespräsident hat in seine Rede alles reingepackt, was ihn stört und verstört, was ihn umtreibt. Die Lösung, die er vor Augen hat, ist einfach, vielleicht zu einfach. Sie lautet: Heimat.

Heimat, das ist für Steinmeier eine Sehnsucht: nach Sicherheit, Anerkennung, Halt im Strom der Veränderungen. „Wer sich nach Heimat sehnt, der ist nicht von gestern“, sagt Steinmeier. „Heimat weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit.“ Und diese Sehnsucht, so Steinmeier weiter, dürfe man „nicht den Nationalisten überlassen.“ Da ist er schon wieder bei der AfD.

Deren Fraktionschef im Bundestag, Alexander Gauland, bezieht die Rede allerdings nicht auf seine Partei. „Das sehe ich überhaupt nicht als Kritik an meiner Partei“, sagte Gauland am Dienstagabend in der ARD.

In der ersten Reihe von Steinmeiers Zuhörern sitzt ein Mann, der den Tag der Einheit völlig anders intoniert hatte: Wolfgang Schäuble. Der designierte Bundestagspräsident hatte in einem Interview zu mehr Gelassenheit im Umgang mit der AfD geraten. Schäuble hätte die Rechtspopulisten wohl kaum in den Mittelpunkt einer Grundsatzrede gerückt. Schäuble muss allerdings künftig in jeder Sitzungswoche mit der AfD umgehen – Steinmeier muss es nicht. Er hat eine andere Rolle, vor allem ein anderes Verständnis. Schon bei seinem Amtsantritt hatte er angekündigt, „ich werde parteiisch sein, parteiisch für die Sache der Demokratie“.

Ein paar Stühle neben Schäuble sitzt Angela Merkel. Die Kanzlerin hat in Mainz die erwartbare Friede-Freude-und-Eierkuchen-Rede gehalten. Sie hat schon am Wahlabend den Hebel umgelegt und ist eher als Steinmeier geneigt, den 24. September dann doch abzuhaken. Dabei müsste man die Suche nach dem Ursprung der gesellschaftlichen Verstörung bei ihr ansetzen, genauer: bei Merkels Flüchtlingspolitik.

„Die Debatte über Flucht und Migration hat Deutschland aufgewühlt“, weiß Steinmeier. Bei keinem anderen Thema stünden sich die Meinungslager „so unversöhnlich gegenüber“, beobachtet er, „bis hinein in die Familien, bis an den Abendbrottisch“. Solange das Thema ein moralisches Kampfgebiet bleibe, „werden wir der eigentlichen Aufgabe nicht gerecht, nämlich die Wirklichkeit der Welt und die Möglichkeiten unseres Landes übereinzubringen“, mahnt der Präsident. Die Möglichkeiten zur Aufnahme von Flüchtlingen seien begrenzt.

Der Präsident fordert legale Zugänge für Migranten

Er fordert zugleich legale Zugänge für Migranten nach Deutschland, um Zuwanderung steuern zu können. Kurzum: ein Einwanderungsgesetz.

Heimat, wie er sie versteht, gibt es auch im Plural: Ein Mensch kann nach Steinmeiers Ansicht „mehr als eine Heimat haben und neue Heimat finden“. Das habe die Bundesrepublik für Millionen von Menschen bewiesen. „Ganze Generationen von Einwanderern sagen voller Stolz: „Deutschland ist meine Heimat“, – das hat uns bereichert, so Steinmeier. „Das sollte uns Zuversicht geben für die großen Integrationsaufgaben, die vor uns liegen“, fügt er hinzu.

Wenn die Politik sich der Aufgabe annehme, Migration zuzulassen, sie zu steuern und zu begrenzen, „gibt es eine Chance, die Mauern der Unversöhnlichkeit abzutragen, die in unserem Land gewachsen sind“. Ohne versöhnliche Botschaft sollte der Feiertag nicht enden.