Washington.

Wer am Dienstagmittag über den Strip von Las Vegas ging, die sieben Kilometer lange Hauptschlagader der künstlichen Stadt in der Wüste Nevadas, der konnte trotz Sonnenscheins die Niedergeschlagenheit mit Händen greifen. Hängende Köpfe, verweinte Augen, Menschen, die sich bei Temperaturen von 28 Grad in Shorts und T-Shirts in den Armen lagen, immer noch stumm vor Entsetzen über das, was Stephen Paddock am Sonntagabend aus dem 32. Stock des „Mandalay Bay“-Hotels über Amerikas sündigste Metropole gebracht hat: Terror und Tod. Ausgerüstet wie ein Ein-Mann-Platoon im Krieg schoss der mit zwei Dutzend Waffen ausgestattete 64-jährige Rentner fast sieben Minuten lang nonstop auf eine 22.000-köpfige Menschenmenge, die sich 450 Meter entfernt zum Schlussakt eines Open-Air-Countrymusik-Festivals zusammengefunden hatte.

Am Ende waren 59 Tote, 527 Verletzte und damit die opferreichste Waffen-Tragödie in der jüngeren amerikanischen Geschichte zu beklagen. Weil die Krankenhäuser noch 33 Patienten in kritischem Zustand auf der Intensivstation hatten, kann die Zahl der Toten noch steigen. Kurz bevor ein Sondereinsatzteam seine Hoteltür aufbrach, erschoss sich Paddock, ein ehemaliger Buchhalter und Immobilien-Spekulant. Sein Motiv: unverändert rätselhaft.

600 bis 700 Schuss fallenin der ersten Minute

Kann man in so einer Kulisse morgens um zehn einen „Sex on the Beach“ trinken und einen der Tausenden einarmigen Banditen in den abgedunkelten und wie immer eisschrankkalten Casino-Höhlen zwischen „Bellagio“ und „Venetian“ mit 25-Cent-Münzen füttern? Lokale Medien und Blogger beschreiben wie aus Trotz vereinzelt solche Szenen von „Jetzt-erst-recht-Normalität“. Sie zitieren Vergnügungssüchtige, die sich „mit voller Absicht“ in die „glitzernde Scheinwelt“ geflüchtet haben, weil sie eingedenk der Dimension des Massenmords „sonst schier verrückt würden“. Dabei sagen alteingesessene Bewohner der Spaß-Oase, dass „sich Las Vegas von dieser Katastrophe niemals richtig erholen wird“. Das liegt an Geschichten wie der von Sonny Melton. Einer von Hunderten. Der junge Mann aus Tennessee wollte mit seiner Frau Heather, beide Country- und Western-Fans, am Sonntag den ersten Hochzeitstag feiern. Was passt da besser als ein Konzert mit Jason Aldean? Für Melton und Tausende andere wurde die Show zum Albtraum, als Stephen Paddock gegen 22 Uhr die Fenster seiner Suite im „Mandalay Bay“ zertrümmerte und die teilweise auf Podesten installierten und mit Zielfernrohren bestückten halbautomatischen und automatischen Höllenwerkzeuge in Gang setzte. Tonexperten rekonstruierten später, dass in den ersten 60 Sekunden „locker 600, 700 Kugeln abgefeuert worden sein müssen“. Als die ersten Schüsse fielen, ergriff Sonny Heathers Hand. Sie rannten. Bis mehrere Kugeln ihn fällten. Die Witwe ist sich sicher: „Er hat mein Leben gerettet.“ Auch 30 Stunden später können viele Überlebende ihr Glück kaum fassen. Am Südende des Strips, ganz in der Nähe des Tatorts, kommen sie zusammen, zeigen sich herzzerreißende Handyvideos.

Auf ihnen sieht man, wie Menschen in Panik kreuz und quer laufen, während das Popp-Popp-Popp-Stakkato der Gewehrsalven die Geräuschkulisse liefert. Um ihre Lieben zu schützen, warfen sich Väter über ihre Söhne und Töchter. „Wir wussten ja nicht, von wo genau die Schüsse kamen“, sagte ein 70-Jähriger, der aus Denver angereist war, später unter Tränen, „ich habe mein Leben gelebt, aber meine Kinder sind doch noch so jung.“ Sie blieben unversehrt. Direkt neben ihnen: Blutüberströmte Teenager. Alte, die regungslos am Boden lagen. Menschen mit tiefen Schusswunden, die verzweifelt nach Hilfe riefen. Die Rettungssanitäter wussten nicht, wo sie zuerst zupacken sollten. Polizei-Chef Joe Lombardo lobte den „selbstlosen Einsatz“ vieler Festivalbesucher, die eigenhändig Verletzte versorgten oder ihnen bis zum letzten Atemzug die Hand hielten.

Eine andere positive Nachricht in all diesem Grauen: Über eine Crowd­funding-Seite im Internet sind bisher fast 3,5 Millionen Dollar an Spenden für die Opfer zusammengekommen. Ein Signal, ein humanes, mehr nicht. Für Las Vegas, mit jährlich über 45 Millionen Touristen einer der Goldesel im amerikanischen Tourismus, ist der Massenmord eine Image-Katastrophe. Die Sicherheitsvorkehrungen in den Casino-Hotels reichen offenkundig nicht aus. Seit Stephen Paddock am vergangenen Donnerstag, drei Tage vor dem Massaker, sein Quartier im „Mandalay Bay“ bezog, hat er unbemerkt von Rezeption, Zimmermädchen und Security Guards sage und schreibe 23 schwere Feuerwaffen und jede Menge Munition in sein Zimmer im 32. Stock transportiert. Der blutige Rest ist bekannt.