Berlin. Jamaika-Koalition: Die Gespräche zwischen Union, FDP und Grünen werden zäh und zeitraubend. Es droht eine monatelange Hängepartie, sogar bis weit ins neue Jahr

Sie haben die Ruhe weg. Die Koalitionsgespräche könnten nach Ansicht von Unionspolitikern bis ins nächste Jahr gehen. Entscheidend sei nicht das Datum, sondern der Inhalt. Vor vier Jahren bescherten SPD, CDU und CSU der Republik zu Weihnachten eine große Koalition. Diesmal sitzt eine Partei mehr am Tisch und mit Grünen und FDP Kräfte, die auf Bundesebene nie miteinander regiert haben. Obendrein wollen beide – wie die SPD vor vier Jahren – ihre Mitglieder befragen. Termine, Zeitpläne, Abläufe und Strategien im Überblick.


CDU und CSU als Eisbrecher
Erst einmal reden CDU und CSU. Für nächsten Sonntag ist ein Spitzentreffen geplant. Dass sie sich sogleich einigen werden, kann man sich in der CDU eher als in der CSU vorstellen. Der Knackpunkt ist die CSU-Forderung nach einer Obergrenze für Zuwanderung. Eine Woche später ist die Wahl in Niedersachsen. So lange gilt eine unausgesprochene Friedenspflicht; Streit zwischen den Schwesterparteien würde wohl erst danach offen ausgetragen.

Vertrauen organisieren

Auffällig ist, dass von keiner der Parteien nach der Wahl neue Zumutungen formuliert worden sind. Die viel diskutierte Obergrenze in der Zuwanderungsfrage ist ein Wiedergänger. Die Grünen haben am Wochenende auf einem kleinen Parteitag den Weg für Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition freigemacht und 14 Unterhändler benannt. Die Verhandlungsgruppe der FDP dürfte kleiner ausfallen. FDP-Chef Christian Lindner legt Wert darauf, „dass zunächst bilateral gesprochen wird“, wie er in der „Bild am Sonntag“ erläuterte. Das heißt: FDP und Union, FDP und Grüne, Union und Grüne, erst zuletzt gemeinsame Gesprächsrunden. Alle kennen Angela Merkels Verhandlungsgeschick und treffen Vorsorge, dass die CDU-Kanzlerin nicht die einen gegen die anderen ausspielt, nicht die FDP gegen die Grünen, nicht die CSU gegen alle. In der CDU geht man davon aus, dass alles im Koalitionsvertrag bis ins Detail geregelt wird. Das kostet Zeit.


Rücksicht geloben und einfordern

Damit Jamaika gelingt, müssen alle Rücksicht geloben und auch einfordern. Indes fangen CDU, FDP und Grüne nicht bei Null an. Sie greifen zurück auf historische Erfahrungen (Union und FDP), etablierte Gesprächsrunden in Berlin, Vorläufer-Koalitionen in den Ländern und belastbare Beziehungen. So werden sich zwei Hauptprotagonisten der Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein in Berlin am Verhandlungs- und womöglich am Kabinettstisch wiedersehen, Robert Habeck (Grüne) und Wolfgang Kubicki (FDP). Verstörend sind die Gespräche für die CSU. Bei keiner anderen Partei ist das Befremden über eine Jamaika-Koalition so groß wie bei der CSU: „Jetzt ist uns Tofu in die Fleischsuppe gefallen“, sagt Landesgruppenchef Alexander Dobrindt. Das ist mehr als ein lockerer Spruch. Eigentlich hat sich die CSU vorgenommen, „klar und direkt und konservativ“ zu formulieren. Geht das, wenn man zugleich mit Grünen und FDP regiert? Für Dobrindt ist Jamaika kein Projekt, sondern ein Experiment.


Regierung auf Autopilot
Die letzte Arbeitswoche des Bundestages war Anfang Juli. Das Parlament wird sich zwar fristgerecht 30 Tage nach der Bundestagswahl konstituieren, hat aber wenig zu entscheiden. Die alte Regierung schaltet auf Autopilot und muss die designierten Koalitionspartner konsultieren. Das gilt erfahrungsgemäß für die Außenpolitik. Die Welt nimmt keine Rücksicht auf innerdeutsche Befindlichkeiten. Klar ist, dass Beförderungen und Umstrukturierungen, die nicht zwingend erforderlich sind, verschoben werden. Gleichzeitig ist die Versuchung groß, im toten Winkel der Öffentlichkeit Fakten zu schaffen. Wenn Merkel sie gewähren lässt, dann wird Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) just im letzten Quartal eine Neukonzeption der Bundeswehr und einen Traditionserlass auf den Weg bringen.


Letzte Ausfahrt: die SPD
Wenn die Gespräche am Ende einer monatelangen Hängepartie scheitern sollten, würde Merkel vor Neuwahlen erst noch versuchen, die SPD zu gewinnen. Auch für die FDP ist sie Teil einer Exit­strategie. Parteichef Lindner erwartet, dass der SPD-Vorsitzende Martin Schulz bald nach der Landtagswahl in Niedersachsen am 15. Oktober abgelöst wird und die Sozialdemokraten sich doch noch für eine große Koalition öffnen könnten. Nicht nur Schulz muss bangen, auch Seehofer kämpft um sein Amt in Bayern. Gut möglich, dass Merkel es zum Jahreswechsel mit neuen Akteuren zu tun haben wird. Ausgeschlossen ist nicht einmal, dass Seehofer die Flucht nach vorn ergreift und ins Bundeskabinett nach Berlin wechselt.