Celle.

Der „Prediger ohne Gesicht“ versteckt sich hinter einer Aktenmappe. Ahmad Abdulaziz Abdullah A., Kampfname Abu Walaa, hält sie hoch wie ein Schutzschild, als sich die Kameras auf ihn richten. So lange, bis die Fotografen den Saal verlassen müssen; dann können die Beobachter dem 33-Jährigen in die Augen schauen. Der Mann, der laut Bundesanwaltschaft der höchste Repräsentant der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) in Deutschland ist, hat die Haare geschoren, er trägt eine schwarze Strickjacke und lässt immer wieder die Augen durch den Raum schweifen.

„Prediger ohne Gesicht“ – so wird Abu Walaa genannt, weil er sich etwas Geheimnisvolles gab, wenn er seine Hass-Botschaften im Internet verbreitete. Immer zeigte er sich von hinten, mit einem schwarzen Turban auf dem Kopf. Jetzt kann sich der 33-Jährige nicht mehr verstecken; seit Dienstag steht der Mann mit vier weiteren Angeklagten vor dem Oberlandesgericht in Celle.

Anis Amri soll bei seinen Freitagsgebeten gewesen sein

Es ist ein Prozess mit höchster Sicherheitsstufe: Vor dem Gerichtsgebäude in der Altstadt patrouillieren schwer bewaffnete Spezialkräfte der Polizei, Justizangestellte kontrollieren jeden Besucher, verhandelt wird im Hochsicherheitstrakt des Gebäudes; die Angeklagten sitzen hinter einer Scheibe aus Panzerglas.

Abu Walaa lächelt, als eine Mikrofonanlage ausfällt und der Prozessbeginn weiter verschoben wird, er lächelt, als der Vorsitzende Richter Frank Rosenow etwas stockend seinen bürgerlichen Namen verliest. Und dann – flüssiger – die Personalien: 1984 im Irak geboren, seit 2003 dauerhaft in Deutschland. Bis zu seiner Verhaftung im vorigen Jahr wohnhaft in Tönisvorst; er ist verheiratet und hat sieben Kinder, drei mit seiner Zweitfrau, mit der er nach islamischem Recht zusammenlebt.

Die Bundesanwaltschaft ist überzeugt, dass der 33-Jährige der „Deutschland-Repräsentant des IS“ ist, der Kopf eines salafistisch-dschihadistischen Netzwerkes. Die vier Angeklagten Hasan C., Boban S., Mahmoud O. und Ahmed F. sollen darin maßgebliche Akteure gewesen sein, den Prediger, den seine Anhänger auch ehrfürchtig „edlen Bruder“ und „Scheich“ nennen, tatkräftig zur Seite gestanden haben. Sie müssen sich wegen Unterstützung und Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung verantworten.

War der Iraker Abu Walaa der Kopf des IS in Deutschland, eine Führungsfigur mit besten Kontakten zur Terrororganisation, wovon die Bundesanwaltschaft ausgeht? Ein enger Vertrauensmann von Abu Mohammad Al-Adnani, der bis zu seiner Tötung als Stratege hinter den IS-Anschlägen in Europa galt? Der Prozess könnte darauf wichtige Antworten liefern. Erstmals wird es wohl aber auch tiefe Einblicke in die Mechanismen der Radikalisierung geben. Als 2015 in Celle die Syrien-Rückkehrer aus Wolfsburg vor Gericht standen, erfuhr die Öffentlichkeit von den verkorksten Biografien der jungen Männer, die sich von ihrer Reise in den Dschihad ein besseres Leben erhofften. Doch wie gelingt es den Drahtziehern, den Verführern und Einflüsterern Jugendliche zu manipulieren?

Der Generalbundesanwalt ist davon überzeugt, dass der 33-Jährige junge Männer in die Kampfgebiete nach Syrien und den Irak lockte. Im Zentrum stand dabei die Moschee des im März verbotenen Vereins Deutscher Islamkreis Hildesheim e. V.: Als Imam habe er radikal-islamistische Inhalte gepredigt. Zudem sei er aber auch bundesweit als Prediger aktiv gewesen und habe sogenannte Islamseminare in Berlin, Kassel, Frankfurt und der Ehlu-Sunnah-Moschee in Bocholt veranstaltet.

Bei der Anwerbung Freiwilliger sollen die Männer nach einem ähnlichen Muster vorgegangen sein: Hasan C. und Boban S. bereiteten sie in Dortmund und Duisburg auf ihre Ausreise in die Kriegsgebiete vor, den einen in einem Wohnzimmer in Dortmund und den anderen im Nebenraum seines Reisebüros in Duisburg. Anschließend soll Abu Walaa sie in Hildesheim in ihrem Entschluss zur Ausreise gefestigt haben.

Wenn die Vorwürfe so stimmen, muss dieses Netzwerk aus ihrer Sicht erfolgreich gearbeitet haben. Ende März 2016 nahmen demnach zwei der späteren Attentäter aus Essen an einem
Seminar des Hildesheimer Predigers teil, zwei Wochen später zündeten sie einen Sprengsatz in einem Sikh-Gebetshaus. Auch der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, soll mehrmals an Abu Walaas Freitagsgebeten teilgenommen haben. Mindestens 15 Männer aus Niedersachsen und neun aus Nordrhein-Westfalen durchliefen nach Behördenerkenntnissen Abu Walaas „Schule“ und reisten ins Kriegsgebiet.

Da sind zum Beispiel die Zwillinge Mark und Kevin K. aus Castrop-Rauxel, ein Jurastudent und ein Berufssoldat. Im Sommer 2014 reisten sie in das Herrschaftsgebiet des IS und schlossen sich als Kämpfer der Terrororganisation an. Mark K. beteiligte sich im März 2015 an einem Angriff auf einen Stützpunkt der irakischen Armee. Er zündete einen Sprengsatz und tötete dadurch mindestens zwölf Regierungssoldaten. Sein Zwillingsbruder sprengte sich einen Monat später bei einem Angriff auf ein Hauptquartier der irakischen Armee ebenfalls in die Luft. Bei dem Angriff kamen etwa 140 Soldaten ums Leben.

Oder Martin L. aus Leipzig, der mit Hilfe des Predigers Abu Walaa im Herbst 2014 nach Syrien reiste und im Sicherheitsapparat des IS Fuß fasste. Letzten Erkenntnissen zufolge war Martin L. für die Überwachung von aus Deutschland kommenden IS-Mitgliedern zuständig.

Die Ermittlungen fußen im Wesentlichen auf den Angaben eines V-Mannes des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen, der Abu Walaa ein Jahr lang ausspionierte, und eines Syrien-Rückkehrers und früheren IS-Sympathisanten aus Gelsenkirchen. Der Kronzeuge sagte sich nach einer Syrienreise von der Terrormiliz los und packte bei den Ermittlern aus, er erhielt eine Bewährungsstrafe. Wie glaubwürdig ist die Aussage eines Ex-Dschihadisten, der sich wohl eine Haftstrafe ersparte, weil er aussagte und andere beschuldigte? Abu Walaas Verteidiger Peter Krieger hat da seine Zweifel. Der Prozess wird am heutigen Mittwoch fortgesetzt.