Hamburg/Berlin. Nach dem Wahlerfolg gilt die Hamburger FDP-Chefin als mögliche Ministerin. Ohne sie wären die Liberalen vermutlich untergegangen

10,5 Prozent. So viele strahlende Gesichter wie im Hans-Dietrich-Genscher-Haus bei der ARD-Prognose um Punkt 18 Uhr sieht man im gern schlecht gelaunten Berlin selten. Gejohle, Geklatsche, gereckte Handys. Umarmungen, Denken-wir-neu-Spruchbänder, Selfies mit dem Parteichef auf Papier. Die FDP ist wieder da.

10,5 Prozent. Auf dieses Ergebnis hätte vor drei Jahren wohl nur ein irrlichternder Zocker gesetzt. Damals lag die FDP auf der Intensivstation, ihre Gegner wähnten sie klinisch tot. Die Lage der Liberalen hatte sich nach dem 4,8-Prozent-Desaster bei der Bundestagswahl 2013 noch einmal verschärft. Wie Dominosteine kippten die Liberalen danach Richtung Sonstige: In Brandenburg reichte es 2014 nur noch für 1,5 Prozent – ein neunter Platz hinter NPD und Piraten. Das beste Ergebnis der Liberalen? 3,8 Prozent in Sachsen. Die fünf Prozent schienen ähnlich weit weg wie ein Antirassismus-Preis für die AfD.

Letzte Hoffnung Hamburg. Parteichef Christian Lindner hatte stoisch auf einen Umschwung 2015 im liberalen Stadtstaat gesetzt, allein die Umfragen blieben bis zum Jahreswechsel mau, mehrmals taxierten Meinungsforscher die FDP auf zwei Prozent. Katja Suding, Hamburgs Spitzenfrau, blieb so ruhig wie demonstrativ optimistisch. „Das war kein Bluff. Ich habe damals deutlich gespürt, dass sich die Stimmung geändert hatte. Nach einem Jahr Großer Koalition wollten die Menschen wieder eine starke FDP“, sagt Suding heute. Der ganz auf sie zugeschnittene Wahlkampf („Unser Mann für Hamburg“) wirkte: Am 15. Februar 2015 sendete die FDP ein Lebenszeichen: 7,4 Prozent, ein Zugewinn von 0,7 Prozent.

Für Katja Suding war es ein Ausrufezeichen. Der unerwartete Sieg trug sie in der FDP-Hierarchie nach oben. Die Seiteneinsteigerin aus den Elbvororten, die völlig überraschend Ende 2010 nach dem schwarz-grünen Koalitionsbruch an die Spitze der FDP gerückt war, legte eine Blitzkarriere hin. Im Mai 2015 wählte der FDP-Bundesparteitag sie mit 85,6 Prozent der Stimmen zu einer der drei stellvertretenden Bundesvorsitzenden. Und so durfte sie am Wahlsonntag in der ersten Reihe triumphieren und sich feiern lassen.

Erst am Nachmittag ist sie mit ihrem Lebensgefährten Udo Riglewski aus München nach Berlin gekommen. Der Flieger hat Verspätung, in der Hauptstadt ist der Teufel los – und die Berliner Eventstrategen haben den Hauptstadt-Marathon auf den Wahlsonntag gelegt. In letzter Minute schafft Suding es zur Präsidiumssitzung der Partei. Im Hans-Dietrich-Genscher-Haus ist die Stimmung schon am Nachmittag prächtig. Vereinzelt sieht man blau-gelbe Krawatten im Achtziger-
Style, viel junges Juli-Volk ist unterwegs und ganz viele Journalisten.

Die FDP ist wieder ein Medienereignis. Und damit die Bilder noch schöner in die Wohnzimmer der Repu­blik flimmern, gibt es ein paar Anweisungen, wie die Prognose später zu feiern ist. In den überfüllten Räumen dominieren die Farben Gelb, Blau und Rosa, der Alkohol schmeckt schon, mit der Temperatur steigt die Stimmung. Die Frage lautet nicht, ob die FDP in den Bundestag zurückkehrt, sondern nur, wie hoch ihr Triumph ausfällt. Und diesen Triumph lässt man sich auch nicht von der AfD und deren 13 Prozent vermiesen. Ein paar Pfiffe, dann ist die Freude zurück. „Das ist ein besonderer Tag für die FDP“, sagt Suding. „Und für mich.“

Die vergangenen Wochen liefen gut für die Liberalen – ein Zweikampf, der keiner war, rückt die Kleinen ins Licht. Die spannendste Frage war nicht, wer Kanzlerin bleibt, sondern wer Drittstärkster wird. Die FDP meldete aus der außerparlamentarischen Opposition selbstbewusst ihre Ansprüche an. Im Wahlkampf präsentierte sie sich so angriffslustig wie inhaltsschwer.

Katja Suding, erst 2006 in die FDP eingetreten, ist längst eines der Gesichter der Partei, die sich neu gefunden, die sich neu erfunden hat. Hinter ihr liegt ein kurzer, aber intensiver Wahlkampf mit bis zu 100 Stunden in der Woche. Die Zeiten, in denen einige Großplakate der heute 41-Jährigen im Ostfriesennerz ausreichten, um die FDP in die Bürgerschaft zu hieven wie 2011, sind vorbei: Das Interesse an Inhalten ist in diesem Bundestagswahlkampf größer. Hinter dem omnipräsenten Christian Lindner mag lange nichts kommen, aber dann folgt die Hamburger Spitzenpolitikerin.

Sie tauchte längst nicht nur in Hochglanz-Magazinen wie „Gala“ auf, sondern kabbelte sich in der ZDF-Talkshow mit der AfD-Krawallschachtel
Alice Weidel oder stellte sich auf den Landungsbrücken den kritischen Fragen des Rapper Disarstar, der seinem Namen alle Ehre machte. Er hielt Suding im Interview vor, die Liberalen machten „das Opfer zum Täter“, sähen Hartz-IV-Empfänger als Schmarotzer und glaubten „dass Arbeitslose ihren Scheiß nicht auf die Reihe kriegen“. Was man halt so sagt, wenn man ein Rapper ist. Suding blieb cool und betonte, derlei Äußerungen würde man von der FDP nicht hören.

Oder müsste es heißen: nicht mehr hören? Die FDP galt landauf, landab als „Partei der sozialen Kälte“ und einige Führungspolitiker kokettierten mit diesem zweifelhaften Ruf. Zwar haben Suding-Gegner an der Elbchaussee ein Plakat mit ihrem Konterfei und dem Spruch „Kühlschränke wählen FDP“ aufgestellt, aber die Liberalen haben sich von ihrer Steuersenkungs-Fixierung verabschiedet. Wie keine andere Partei spricht sie von Freiheit, Digitalisierung und Bildung. Herzensthemen auch von Suding: „Über allem steht die Freiheit der individuellen Selbstverwirklichung. Der Einzelne entscheidet, wie er leben will.“

Suding, die im erzkatholischen Vechta aufgewachsen ist, hält es auch so. Die Mutter von zwei Kindern hat sich vor fünf Jahren von ihrem Mann getrennt; die beiden Jungs leben beim Vater, ihr Leben dreht sich längst um die Politik. 70-, 80-Stunden-Wochen sind eher Normalfall denn Ausnahme. Suding ist ein neuer Typus Politiker: Die 41-Jährige präsentiert sich selbstbewusst – als ein Kameramann im Bürgerschaftswahlkampf aufreizend lange ihre Beine ins Bild rückte, diskutierte der NDR mehrere Tage aufgeregt, sie blieb cool. Politische Gegner bringt sie damit auf die Palme, ein grünes Landesvorstandsmitglied aus Baden-Württemberg twitterte 2015: „muss man sich mal vorstellen: mit Titten und Beinen anstatt Inhalten. #fassungslos #fdp“.

Die Grünen und die FDP fremdeln miteinander. Trotzdem hat das Ergebnis vom Sonntag ein Dreierbündnis mit der Union wahrscheinlicher gemacht. Ein Ministeramt gilt für Suding als möglich – die Hamburgerin ist breit aufgestellt und käme für Verkehr und Infrastruktur ebenso infrage wie für das Familienressort oder für Entwicklungs- hilfe. „Ich bin Generalistin“, sagt sie. Noch weiß sie nicht, in welchen Bereichen sie im Bundestag arbeiten wird. „Verkehrspolitik und Infrastruktur ist natürlich für uns in Hamburg besonders wichtig“, sagt sie. „Im Präsidium bin ich derzeit für Familie und gesellschaftspolitische Fragen zuständig. Und Entwicklungspolitik wird immer wichtiger.“ In der Bürgerschaft hat sie bewiesen, dass sie sich schnell in Sachthemen hineinzuarbeiten vermag.

Kaum etwas erinnert an diesem Sonntag an die schüchternen und nervösen Auftritte zu Beginn ihrer Politkarriere im Bürgerschaftswahlkampf 2011. Suding eilt von Interview zu Interview. NDR, Phoenix, RTL 2, BBC – die Liste der Anfragen ist lang. Erst gegen 22 Uhr kehrt etwas Ruhe ein, Zeit das Mandat mit einem Glas Wein zu genießen. Flottbek war gestern, morgen ist Berlin.