Berlin. Unsere Reporter legten vor der Bundestagswahl mit den Spitzenkandidaten Tausende Kilometer zurück – ein Rückblick auf besondere Momente

Bei 36 Grad im Schatten unter der spanischen Sonne oder mit Tempo 250 im ICE. Wer als Journalist an den Spitzenkandidaten des Bundestagswahlkampfs nah dran sein wollte, konnte was erleben – im wahrsten Sinne des Wortes.

Kaffee bei der Kanzlerin

Wer Berichterstattung über den Bundestagswahlkampf ernst nimmt, muss mit allen Spitzenkandidaten ins Gespräch kommen – natürlich auch mit den Amtsinhabern. Sie zu bekommen, ist immer am schwierigsten, weil jedes Medium ein Interview will und ihr Terminkalender am engsten ist. Es ist nicht das erste Gespräch mit der Kanzlerin und sie weicht auch dieses Mal keinen Millimeter vom üblichen Rahmen ab.

30 Minuten Zeit, Fotos während des Gesprächs – aber keine Extra-Zeit für Portraits. Die Kanzlerin schätzt keine langen Vorreden und will schnell zur Sache kommen. Während die meisten Regierungschefs livrierte Ordonnanzen umständlich Getränke servieren lassen, mag es die Kanzlerin hemdsärmelig: „Kaffee?“, fragt sie wie immer – und schenkt gleich eigenhändig den Gästen ein. Aus Zeitgründen verzichte ich darauf, mir das Milchkännchen zu angeln. Neben uns zwei Interviewern sitzt nur Regierungssprecher Steffen Seibert mit am schlichten Besprechungstisch in ihrem Büro im Kanzleramt. Er macht sich Notizen, sagt aber während des Gesprächs kein Wort.

Angela Merkel ist konzentriert, braucht keine Akten für Detailfragen. Die Strapazen der unzähligen Wahlkampfauftritte sind ihr nicht anzumerken. Man spürt eine innere Gelassenheit, aber keine Euphorie. Zu oft hat sie erlebt, wie Demoskopen dramatisch danebenliegen können.

Das große Thema des Interviews ist Merkels Flüchtlingspolitik. Kein angenehmes Thema für die Bundeskanzlerin, die sicher viel lieber über ihre Erfolge zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt reden würde. Sie weiß genau, wie umstritten ihre Haltung bei vielen Deutschen ist, aber sie bleibt auch im Interview kurz vor der Wahl bei ihrem Kurs. Es gibt wenig harte News im Interview – aber eine wichtige Botschaft: Angela Merkels Flüchtlingspolitik wird nicht geändert.

Unter Volldampf im ICE

Das Wahl-Interview mit SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz beginnt entspannt. Schulz hat uns Redakteure für das Gespräch in ein reserviertes Zugabteil im ICE von Berlin nach Braunschweig gebeten, er ist auf dem Weg zu einer Wahlkundgebung und hat viel Zeit. Und ein dünnes Nervenkostüm. Während der „Schulz-Zug“ durch Brandenburg rast, geht es um die Schwächen des Bildungssystems – und um seinen Vorschlag, Bund und Länder sollten sich bei der Bildungspolitik zusammentun, weil die alleinige Zuständigkeit der Länder an ihre Grenzen komme. „Warum ist das so eine heilige Kuh?“, will einer der Interviewer wissen, warum habe auch die SPD nicht die Kraft gehabt, dafür zu sorgen, Deutschland auch in dieser Frage besser für die Globalisierung aufzustellen? Die Frage trifft eine wunde Stelle des Kandidaten. Er braust auf, wird emotional. Warum fragen Journalisten immer rückwärtsgewandt? Er mache Vorschläge für die Zukunft, aber immer müsse er sich fragen lassen, warum habt ihr das in der Vergangenheit nicht gemacht, klagt Schulz. Von morgens bis abends gehe das so. Wenn etwas nicht funktioniere, dann sei es die SPD, wenn es funktioniere, die Kanzlerin, sagt er. Aber in Wahrheit hat das niemand in dem Gespräch unterstellt. Bald beruhigt sich Schulz, entschuldigt sich in aller Form. Das hat Größe. Entschuldigung angenommen – aber wir Interviewer spüren, unter welchem Druck der Kandidat steht.

In diesen Minuten wird deutlich, wie sehr Schulz unter einem Kampagnen-Dilemma leidet: Er wollte Merkel im Wahlkampf als frischer, von der Koalitionsarbeit unbelasteter Kandidat mit neuen Ideen herausfordern – und muss sich doch an der realen SPD-Regierungsarbeit messen lassen. Auch die schlechten Wahlumfragen hinterlassen ihre Spuren. Die Bundestagswahl sei „überhaupt nicht entschieden“, versichert der Kanzlerkandidat anschließend kämpferisch. „Ich trete an, um Merkel abzulösen.“ (Christian Kerl)

Tabubruch unter Spaniens Sonne

Politiker sind offener an Orten, an denen sie entspannen können. Christian Lindner liebt Mallorca, er hat die spanische Mittelmeer-Insel einmal seine „Seelen-Tankstelle“ genannt. Das Interview findet auf Vorschlag des FDP-Chefs am Stadtstrand von Palma statt, im „Nassau Beach Club“. Es sind 36 Grad im Schatten, die Luft ist feucht. Lindner trägt verwaschene Bluejeans und ein weißes Hemd, später will er sich noch auf einer Go-Kart-Bahn austoben. Das Gespräch dreht sich um die harte Linie der Freien Demokraten in der Flüchtlingspolitik, um die Abgrenzung zur AfD. Nach einer Dreiviertelstunde wechselt Lindner das Thema, er will unbedingt noch etwas zu Russland sagen – Sätze, die er selbst als „Tabubruch“ bezeichnet: Den Konflikt um die von Moskau annektierte ukrainische Halbinsel Krim werde man „einkapseln müssen“, um an anderen Stellen Fortschritte zu erzielen, fordert Lindner. „Ich befürchte, dass man die Krim zunächst als dauerhaftes Provisorium ansehen muss.“ Was folgt, ist tagelange Empörung in Politik und Medien – weit über Deutschland hinaus. Der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin sagt, Politiker wie Lindner ermutigten „den Aggressor zu weiteren Verbrechen und verwandeln sich in Mitbeteiligte an Putins Verbrechen“. Die den Liberalen sonst eher zugeneigte „Welt“ kommentiert, die FDP scheine es zu schaffen, „sich für wirkliche Liberale unwählbar zu machen“. Beifall kommt von AfD und Linkspartei. Lindner verteidigt seine Einlassungen, und seine Partei stützt ihn, bis hin zum früheren Außenminister Klaus Kinkel. Was mag Lindner zu seinem umstrittenen Vorstoß bewogen haben? Will er das Verhältnis zu Russland neu denken, um die Handelsbeziehungen wiederzubeleben? Steht er unter dem Einfluss zweifelhafter Lobbyisten? Eines scheint klar: Lindner hat im Urlaub die Tragweite seiner Worte unterschätzt.

Die Grünen und der heiße Sch...

Hat sie das wirklich gesagt? Sie hat. Grüne Themen werden momentan nicht als „der heiße Scheiß der Republik“ wahrgenommen, sagte Katrin Göring-Eckardt nach der Saarland-Wahl in der Bundespressekonferenz. Der Spruch der Grünen-Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl klang locker. Doch politisch klug war das wahrscheinlich nicht.

In einem Porträt über Göring-Eckardt stand mal, sie sei immer gleich: „Gleich kontrolliert, gleich sachlich, gleich freundlich-zugewandt.“ Das stimmt nicht – nicht nur wegen des Zitats aus dem Saarland. Mal ist sie gut drauf, mal nicht. Sie hat auch keine Blazer-Uniform wie die Kanzlerin. Manchmal trägt Göring-Eckardt ein grünes Kleid, wie beim Interview mit dieser Zeitung im August im „Cáfe am Neuen See“ in Berlin. Manchmal trägt sie ein fleischfarbenes Bomberjäckchen, wie auf dem Wahlparteitag am Sonntag. Aber egal, wie sie am Wahlabend kleidet: die Frage nach dem „heißen Scheiß“ kommt bestimmt.

(Alexander Kohnen)

Wandlung im Regen
Ein Regentag im August in Gütersloh. Gerade noch hat AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel mit Bekannten geplaudert. Dann steigt sie auf die Bühne, um eine Wahlkampfrede zu halten. Plötzlich verwandelt sich die freundliche Frau in der blauen Barbour-Jacke in eine aggressive Rednerin. Als erstes bezeichnet sie die Gegendemonstranten am Rande des Platzes als „Schande“. Es folgt ein Horrorszenario für Deutschlands Zukunft: ohne Rechtsordnung, ohne Bargeld, dafür mit Terroranschlägen und Bürgern, die vor allem Angst haben. Zehn Minuten dauert das. Weidel steigt von der Bühne, sie gibt einem Radiosender lächelnd ein Interview und geht zu Fuß davon. Zurück bleibt ein zutiefst verstörendes Gefühl.(Philipp Neumann)

Comeback im Bierzelt

Streng genommen ist es bloß ein Randereignis, der Auftritt eines „engagierten Bürgers“. Sagt er. Karl-Theodor zu Guttenberg hat einmal eine falsche Doktorarbeit abgeliefert, an diesem Abend Ende August in Kulmbach übt er sich in der Kunst der falschen Bescheidenheit. Es sind alle da, wirklich alle Kollegen, von den Agenturen, von „Stern“, „Zeit“ und „Spiegel“, von vielen Zeitungen. Auf Anhieb beflügelt der Ex-Minister, Ex-Doktor und nur noch Jetsetter der CSU die politischen Fantasien und macht – volle Hallen und Bierzelte – mehr auf sich aufmerksam als die Kanzlerin am selben Abend nur ein paar Kilometer weiter im Frankenland. KTs Wahlkampf-Quickie steht für die Sehnsucht nach ein bisschen Glamour, Wortwitz, Charisma in einem ansonsten an Spannung armen Wahlkampf. CSU-Chef Horst Seehofer hat es vorausgesehen, so, genau so. „Gute Leute muss man holen“, hat er neulich beim Oktoberfest-Anstich gesagt. „Ob er nun jetzt einsteigt oder in ein paar Jahren ...“ Merke: Es war wohl wieder ein Fake, diesmal ein Fake-Comeback.