Berlin.

In einigen Stadtteilen deutscher Großstädte könne sie sich nicht blicken lassen, sagt Alice Weidel. „Vor allem in muslimischen Problembezirken könnte ich mit meiner Lebensgefährtin inzwischen nicht durchgehen“, beklagt die Spitzenkandidatin der AfD. Die Täter, die homosexuelle Paare angriffen, seien stets Muslime; sie hielten Homosexualität für strafbar. „Das ist ein Grund, warum ich mich für AfD einsetze“, sagt Weidel. „Sie ist die einzige Partei, die das Problem benennt.“

Es war ein bemerkenswertes Bekenntnis, das die 38-Jährige am Montag ablegte. Nicht nur, weil Weidel das erste Mal offen über ihre Ängste als homosexuelle Frau sprach. Sondern auch, weil sie sich Hilfe von der AfD erhofft – einer Partei, die ausschließlich die Ehe von Mann und Frau propagiert. Um solche Widersprüche sollte es an diesem Tag aber gar nicht gehen.

Auf ihrer letzten Pressekonferenz vor der Bundestagswahl wollten Weidel und ihr Parteifreund Alexander Gauland noch einmal den Islam als bedrohliche Religion darstellen – ein Thema, mit dem die AfD im Wahlkampf punkten konnte. Keine Minarette mehr in den Städten, Predigten in Moscheen nur auf Deutsch, so lauten einige Forderungen. Keine ist wirklich neu und keine wird nur von der AfD vertreten.

Aber die Verknüpfung der Stichworte Islam, Flüchtlinge, Kriminalität und Terror haben der AfD großen Zulauf gebracht. Stets lag sie in den vergangenen Monaten in Umfragen bei zehn Prozent. Aktuell erreicht die Partei elf oder sogar zwölf Prozent, Tendenz weiter steigend. Würde sie diese Werte auch am Sonntag bei der Bundestagswahl erzielen, könnten 60 oder 70 AfD-Abgeordnete in den Bundestag einziehen.

Protest gegen die große Koalition

Für Torsten Schneider-Haase, der beim Umfrageinstitut Kantar Emnid verantwortlich für die Politik- und Wahlforschung ist, ist das keine ungewöhnliche Entwicklung. „Eine Woche vor der Wahl beschäftigen sich viele Menschen das erste Mal damit, wo sie ihr Kreuz machen“, sagt er. Wählern, die mit der großen Koalition unzufrieden seien, blieben nicht viele Möglichkeiten, diese Unzufriedenheit auszudrücken: „Man kann nicht zur Wahl gehen oder Parteien an den Rändern wählen wie AfD oder Linke.“ Oder man könne die FDP aus der außerparlamentarischen Opposition zurückholen.

Protest gegen die große Koalition, das ist auch aus Sicht von Matthias Jung, dem Chef der Forschungsgruppe Wahlen, der Hauptgrund für viele Menschen, AfD zu wählen. Der Teil der Wählerschaft, der dieser Partei zuneige, „ist mit bestimmten Entwicklungen unserer Gesellschaft so unzufrieden, dass es ihm primär um einen heftigen Protest geht“, sagt Jung. Nicht alle AfD-Sympathisanten würden alle Positionen der Partei teilen. Sie würden der AfD auch bei der Lösung von Problemen nicht unbedingt eine größere Kompetenz zubilligen. „Ihnen geht es um die Wirkung im Medienecho, wenn am Wahlabend eine starke AfD möglichst viel aufmischt“, sagt Jung.

Die Kritik anderer Parteien an der AfD und ihren Kandidaten wirkt dabei eher verstärkend. Wenn etwa Außenminister Sigmar Gabriel davon spricht, dass mit dem Einzug der AfD in den Bundestag „zum ersten Mal nach Ende des Zweiten Weltkriegs im deutschen Reichstag wieder echte Nazis sitzen“ oder wenn Linken-Spitzenkandidatin Sahra Wagenknecht warnt, die AfD brächte „Halbnazis oder sogar richtige Nazis“ mit, dann kann das viele AfD-Wähler nicht mehr schocken.

Im Gegenteil: Wahlforscher wie Matthias Jung sagen, die zunehmende Polarisierung, die auch von der AfD bewusst provoziert werde, lasse zwar die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auf Distanz zur AfD gehen. „Sie verstärkt jedoch auch den Zusammenhalt in der AfD-nahen Minderheit.“ Es sei eine Art „Trotzreaktion“, die dort zu einer weiter zunehmenden Mobilisierung führe. „Politisch unkorrekte oder empörende Äußerungen lösen bei AfD-Anhängern eher Respekt aus“, sagt Emnid-Forscher Schneider-Haase. „Gibt es dann in den Medien Kritik an diesen Äußerungen, nehmen AfD-Anhänger ihre Partei in Schutz.“

Kanzleramtsminister Peter Altmaier (CDU) beunruhigt diese Entwicklung nicht. Er glaubt, dass der Aufstieg der AfD in Umfragen kein Zeichen einer Spaltung Deutschlands sei: „Die Extreme sind schwach, und die Mitte ist stark“, beteuert Altmaier. Deutschland habe ein stabiles Parteiensystem.