Berlin.

Christian Lindner beschleunigt gerne. Im Sportwagen, auf der Kartbahn oder mit dem Motorboot. Seine privaten Leidenschaften könne man „meistens mit Benzin betanken“ sagt er. Eine Woche vor der Wahl sieht es nun so aus, als würde der 38-jährige Parteichef die FDP nach dem Rauswurf von 2013 nicht nur zurück in den Bundestag führen, sondern möglicherweise auch gleich in die Regierung: Von null auf hundert in vier Jahren. Eine rasante, aber auch gefährliche Beschleunigung.

Wer wird am 24. September die stärkste der kleinen Parteien? Im Schlussspurt um den dritten Platz hinter Union und SPD liegen FDP, Grüne, Linke und die AfD Kopf an Kopf. Aber: Nur Liberale und Grüne können sich realistische Chancen auf eine Regierungsbeteiligung ausrechnen. Angesichts der großen Zahl unentschlossener Wähler ist jedoch noch vollkommen offen, für welches Bündnis es reichen wird: Kommt es zu einer Neuauflage von Schwarz-Gelb? Oder gibt es zum ersten Mal Schwarz-Grün auf Bundesebene? Braucht die Union am Ende sogar Grüne und Liberale für ein Dreierbündnis? Wer in diesem Fall die Nase vorn hat, kann nicht nur besser verhandeln, sondern auch den Vizekanzler stellen. Sollte es dagegen zu einer Fortsetzung der großen Koalition kommen, fällt dem Drittplatzierten immerhin der Job des Oppositionsführers zu.

Für Lindners Liberale gilt daher im Moment vor allem: Die Eigenständigkeit betonen, den bürgerlichen Konkurrenten von Union und Grünen die Wähler abjagen, aber die Brücken nicht endgültig einreißen. Denn Lindner mag noch so oft betonen, dass ihm für ein Jamaika-Bündnis mit Union und Grünen der Glaube und die Fantasie fehlten. Er mag sich auch öffentlich wundern, dass die Grünen zwar in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz mit den Liberalen regieren, die FDP aber neuerdings wieder zum Feindbild erklären. Doch was heißt das schon?

Am Ende zählen in der Politik nicht Befindlichkeiten, sondern Machtoptionen. Lindners Vize Wolfgang Kubicki, der in Kiel gerade gute Erfahrungen mit einem Jamaika-Bündnis macht, spricht jedenfalls auffallend deutlich von „Schnittmengen“ mit den Grünen – etwa beim Thema Zuwanderung und Rechtsstaat. Und Lindner lässt keine Gelegenheit verstreichen, um zu zeigen, wie sympathisch er Grünen-Chef Cem Özdemir findet.

FDP-Parteitag am Sonntag leitet Schlussspurt ein

An diesem Sonntag wollen die Liberalen bei ihrem Parteitag in Berlin zehn Punkte beschließen – als Gerüst für einen Koalitionsvertrag mit liberaler Handschrift: Darunter die Forderung nach einem Einwanderungsgesetz, nach einer Begrenzung der staatlichen Überwachung, nach Investitionen in Bildung und Digitalisierung. Ultimative rote Linien aber will die FDP ausdrücklich nicht ziehen: „Das wäre unvernünftig, damit würden wir uns fesseln“, heißt es. Mit anderen Worten: Die FDP stellt sich darauf ein, in Koalitionsverhandlungen mit der Union Federn zu lassen.

Auf den letzten Metern bis zum Wahltag geht es daher nun vor allem darum, noch möglichst viele Unentschlossene zu überzeugen. Die FDP zielt dabei offensiv auf abtrünnige Unionswähler. Frei nach dem Motto: Wer gegen Merkels Flüchtlingspolitik ist, muss nicht die AfD wählen, er kann auch die andere außerparlamentarische Oppositionspartei nehmen.

Die FDP-Forderungen nach einer klaren Trennung zwischen erwünschten Einwanderern und unerwünschten Flüchtlingen sowie einer harten Gangart gegenüber Menschen ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht – für viele Kritiker klang das, als eifere da einer eher dem AfD-Spitzenkandidaten Alexander Gauland nach als FDP-Übervater Hans-Dietrich Genscher. Auch Lindners Vorstoß, die Annexion der Krim als dauerhaftes Provisorium anzusehen und so das Verhältnis zu Russland zu verbessern, verstanden viele als gezielte Provokation – um Profil zu gewinnen.

Nach dem Wahltag wartet auf die FDP jedoch noch ein ganz anderes Problem: Nach dem „unfreiwilligen Bildungsurlaub“, wie Lindner die letzten vier Jahre ohne Bundestagsfraktion nennt, steht die Partei auch personell auf wackeligen Beinen. Politiker mit bundespolitischer Erfahrung wird es in der neuen Bundestagsfraktion kaum geben, viele der potenziellen Abgeordneten sind Neulinge. Müsste die FDP aus dem Stand heraus Ministerposten besetzen, sähe die Personaldecke der Rückkehrer auf einmal sehr dünn aus.

Christian Lindner begegnet solchen Fragen derzeit mit Zweckoptimismus. Die vielen Neulinge? Das sei doch ein klarer Vorteil und politische Erfahrung oft nur eine Entschuldigung dafür, nichts Neues probieren zu wollen. Eine Haltung, die Lindner immerhin schon als 18-jähriger Schüler vertrat: In einem Video der Deutschen Welle erklärte der Abiturient bereits 1997 sein Credo: „Probleme sind nur dornige Chancen.“ Hier zumindest dürften die Grünen spontan zustimmen.