Paju.

Als Briony Price gegen 23 Uhr nach Hause läuft, an einem dunklen Wald entlang, ist im Hintergrund sehr laut Opernmusik zu hören. Das sei Pansuri, erklärt die 29 Jahre alte Britin, so heißt die traditionelle koreanische Musik, bei der eine Frauenstimme sehr hohe Töne anschlägt. „Manchmal wird es unterbrochen von lauten koreanischen Nachrichten oder von politischen Talkshows.“ Briony wird nur noch selten von dem Lärm wach, sie wohnt seit vier Jahren hier in an diesem Waldstück bei Paju, an der Grenze zu Nordkorea. „Das ist immer noch besser als die Schüsse, die ich auch schon gehört habe um diese Zeit“, sagt sie. Lange war es ruhig gewesen hier an der Grenze, aber seit zwei Wochen sind die Lautsprecher wieder jede Nacht in Betrieb.

Was Briony Price hört, ist einer von 21 Propaganda-Lautsprechern, die auf der südkoreanischen Seite aufgestellt wurden. Sie sollen bis zu 25 Kilometer weit in den Norden hinein zu hören sein. Sie sind neun Meter hoch und spielen – vor allem nachts – Nachrichten, Informationen über Weltpolitik und eben koreanische Opern. Sie sollen die Moral der nordkoreanischen Militärs brechen. Price wohnt auf dem 38. Breitengrad, jener Linie, die allgemein als die gefährlichste Grenze der Welt bezeichnet wird.

Aus Angst vor einer Eskalation kommt es zu Demonstrationen

Gerade in den vergangenen Tagen, als Diktator Kim Jong-un nicht nur eine Mittelstreckenrakete über Japan schoss, sondern auch einen sechsten Atomtest durchführte, wurden die Nachrichten über Nordkorea immer beunruhigender. Nun schaut die Welt besorgt auf den kommenden Sonnabend: Am 9. September vor 49 Jahren wurde der Staat Nordkorea gegründet. Vor einem Jahr fand genau an diesem Tag der fünfte Atomtest statt. Der südkoreanische Geheimdienst rechnet in diesem Jahr mit dem Start einer weiteren Interkontinentalrakete als Provokation. Selbst Analysten, die bisher diplomatische Lösungen für diese Krise sahen, waren sich in Bezug auf Reaktionen der US-Seite nicht mehr sicher. „Südkorea und die USA senden sehr unterschiedliche Signale in Richtung Nordkorea“, sagt James Kim vom Ansan-Institut, einem Think-Tank in Seoul. „Zum einen will Präsident Moon Jae-in weiter die Tür zum Dialog offenhalten, aber andererseits verstärkt Südkorea die militärische Präsenz an der Grenze und unterstützt schärfere Sanktionen gegen den Norden.“ Auch die Position der USA ändert sich zwischen dem Willen zur Diplomatie und Trumps Zitat, „alle Optionen sind auf dem Tisch“. Aus Angst vor einer Eskalation kommt es in Südkorea zu Demonstrationen: In der Stadt Seongju wurden in der Nacht vier weitere Raketenabwehrsysteme (THAAD) installiert, zusätzlich zu den bereits zwei Systemen, die schon in Benutzung sind. Rund 300 Anwohner wurden von 8000 Polizisten davon abgehalten, näher an das Gelände zu treten. Die Aufrüstung wird von vielen Bürgern kritisch gesehen, weil sie eben auch als Aggression gegen den Nachbarn China gedeutet werden kann. Andererseits sieht die Regierung THAAD als einzigen Schutz gegen den immer aggressiver auftretenden Norden.

Doch das Leben direkt an dieser Grenze könnte tagsüber beschaulicher nicht sein. „Ich jogge häufig an die Grenze und schaue auf die andere Seite“, sagt Price. „Doch trotz all der militärischen Präsenz hier habe ich mich nie unsicher gefühlt.“ Sie arbeitet mit zehn anderen Briten und US-Amerikanern im „English Village“, einem künstlichen Dorf, das einer britischen Kleinstadt nachgebildet ist. Vor allem Familien kommen hierher und gehen ins Musical „Beauty and the Beast“, bei dem Price bis kürzlich die „Standuhr“ gespielt hat. „Wir merken hier im Alltag wirklich gar nichts von den Provokationen des Nordens.“

Jemand, der aktiv daran arbeitet, dass diese Provokationen enden, ist Kang Cheol-hwan. Der 48 Jahre alte nordkoreanische Flüchtling lebt seit 1992 in Südkorea und arbeitet für die Menschenrechtsorganisation „North Korea Strategy Center“. „Kim Jong-un schafft es mit seinen Aktionen vor allem abzulenken“, sagt er. „Je aggressiver er auftritt, umso weniger schauen westliche Medien auf die fortschreitenden Menschenrechtsverletzungen in seinem Regime.“ Kang versucht mit USB-Sticks und SD-Karten Nachrichten in den Norden zu schicken – und er hält Kontakt mit zum Teil hochrangigen Nordkoreanern. Kangs Quellen sprechen davon, dass es derzeit einen Stimmungswechsel im Land gebe. „Laut meinen Informationen“, sagt er, „steht die Revolution im Norden unmittelbar bevor.“ Er begründet das mit der ökonomischen Situation vieler, die sich auch durch die Sanktionen weiter verschlechtern. Zuvor wurden sie häufig nicht umgesetzt, aber seit wenigen Wochen halten sich selbst chinesische Firmen daran. Wenn das von den USA angestrebte Öl-Embargo umgesetzt werden könnte, würde sich die Lage dramatisch weiter verschlechtern. „Viele sind von Kim Jong-uns Handeln stark frustriert, er hat Feinde in den eigenen Reihen, sonst würde er seine eigenen Verwandten nicht umbringen.“

James Kim vom Ansan-Institut ist skeptischer, was eine Revolution im Norden angeht. „Das System hat sich doch als stabil erwiesen bisher“, sagt er. Für ihn sei es spannender zu beobachten, ob Kim Jong-un es schaffe, sein Nuklearprogramm zu beenden. Die Frage werde sein, sagt Kim, welche Art von Dialog dann beginne.

Gegen ein Uhr morgens am Donnerstag, Mittwoch 17 Uhr in London, ruft Brionys Mutter per Videotelefon an. Sie klingt besorgt. „Was ist da wieder los bei Euch?“, fragt sie. „Wann kommst Du nach Hause?“ Briony erzählt nichts von der Pansuri-Musik aus den Lautsprechern, schon gar nichts von den Schüssen. Sie war bis eben mit Kollegen koreanisch essen, sie sagt, einen „Notfall-Rucksack“ wie bei früheren Krisen hat sie noch nicht gepackt. „Die Medien übertreiben“, sagt sie und klingt überzeugend, als sie ihrer Mutter versichert: „Du musst Dir keine Sorgen machen.“