Tokio/Washington.

Den Fischer Ichiro Kondo erreichte die Nachricht beim Frühstückstee am Dienstag kurz vor sechs Uhr. „Ich hörte den Alarm im Lautsprecher in der Nähe meines Hauses. Die Bürger sollten sich in Sicherheit bringen, forderte eine Stimme. Aber ich kenne kein Gebäude in unserer Gemeinde, das den Einschlag von Raketen aushält. Ich war ratlos“, sagt der 38-Jährige der englischsprachigen Zeitung „Japan Times“. Er wohnt in der knapp 5000 Einwohner zählenden Kleinstadt Erimo auf der Insel Hokkaido im Norden Japans. Ein Ort, der für seine starken Winde bekannt ist.

Über den südlichen Zipfel Hokkaidos flog die neueste Testrakete des nordkoreanischen Machthabers Kim Jong-un. Es war ein Geschoss vom Typ Hwasong-12, eine Mittelstreckenrakete, deren Flugbahn direkt über Erimo verlief. Sie war in der Nähe der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang gestartet, legte insgesamt eine Strecke von rund 2700 Kilometern bei einer maximalen Flughöhe von 550 Kilometern zurück und stürzte 1180 Kilometer östlich von Erimo in den Pazifik. Nach 1998 und 2009 war es das dritte Mal, dass eine nordkoreanische Rakete über japanisches Territorium flog – doch am Dienstag gab es erstmals keine Vorwarnung.

Trump telefonierte mit seinem japanischen Amtskollegen

Der Schock in der Bevölkerung saß tief. Ein 59-jähriger Grundschullehrer aus der Präfektur Aomori im Norden der Hauptinsel Honshu wurde durch einen ohrenbetäubenden Alarm im örtlichen Radiosender geweckt. Er schaltete sofort das Fernsehen ein, in dem die Regierung eine Warnung abgab. Auch der Lehrer wusste nicht wohin, zog die Vorhänge zu und hielt sich vom Fenster fern.

Überall im nördlichen Japan heulten gestern Sirenen in den Lautsprechern auf, die es fast an jeder Straßenecke gibt. Viele Leute bekamen von der Verwaltung in ihrem Wohnort eine SMS mit der Empfehlung, Schutzräume aufzusuchen. Das Problem: Nur größere Städte verfügen über Bunker für zivile Katastrophen wie Erdbeben oder Tsunamis. Aber im ganzen Land herrschten Alarmstimmung und Kriegsangst.

Der Shinkansen, Japans Hochgeschwindigkeitszug, stellte zeitweise seinen Betrieb ein. Die Anzeigentafeln auf den Bahnhöfen zeigten die Fahrplanänderung per Leuchtschrift wie bei einem größeren Unfall. Auf den Fernsehschirmen der Nation waren Grafiken zu sehen, die mit einer roten Linie die Flugbahn von Kims Rakete über japanisches Territorium anzeigten. Dazwischen wurden Bilder des starken Manns aus Pjöngjang eingeblendet, der im dunkelblauen Nadelstreifenanzug schallend lachte, als ob einer einen zündenden Witz erzählt hätte, eingerahmt von jubelnden Generälen und strammstehenden Soldaten in Kampfuniform. Der nordkoreanische Botschafter bei den UN feuerte rhetorische Breitseiten Richtung Washington. Die USA würden die koreanische Halbinsel auf eine „extrem starke Explosion“ zutreiben, kritisierte Han Tae-song. Daher habe sein Land „jedes Recht, mit harten Gegenmaßnahmen sein Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch zu nehmen“. Derzeit führen 17.500 US-Soldaten ein Manöver mit südkoreanischen Kräften durch. Dabei wird mit Computern ein Krieg auf der koreanischen Halbinsel simuliert. Nordkorea wertet das als Angriffsvorbereitungen.

In Japan gab man sich alarmiert. Ein Regierungssprecher in Tokio sprach von einer „beispiellos ernsten und schweren Bedrohung“. Nach dem neuesten Raketenabschuss dürfte sich auch Ministerpräsident Shinzo Abe in seiner Haltung bestätigt sehen. Abe will seit Langem die pazifistische Nachkriegsverfassung ändern, um Japans „Selbstverteidigungskräfte“ rechtlich zu legitimieren. Die Regierung diskutierte zudem laut über Pläne für eine mögliche Evakuierung von Japanern aus Südkorea.

In Südkorea wies Präsident Moon Jae-in die Streitkräfte an, ihre Stärke zu demonstrieren. Vier F15K-Kampfjets ließen auf einem Schießplatz in der Nähe der innerkoreanischen Grenze Bomben fallen. Bei der Übung sei die nordkoreanische Führung als simuliertes Ziel angegeben worden, berichtete die nationale Nachrichtenagentur Yonhap. Washington und Seoul würden außerdem nachdenken, „strategische“ Verteidigungswaffen nach Südkorea zu verlegen.

China reagierte auf den nordkoreanischen Raketentest wie fast immer: Es versuchte, Dampf aus dem Konflikt zu nehmen. Zwar sei man an einem „kritischen Punkt“ angelangt, hieß es im Außenministerium. Gleichzeitig rief eine Ministeriumssprecherin dazu auf, „nichts zu unternehmen, wodurch die Spannung in der Region weiter verschärft“ würde. „Druck, Sanktionen und Drohungen“ hätten nicht geholfen, die Probleme zu lösen. Moskau zeigte sich besorgt. Die Lage habe die „Tendenz zur Eskalation“, warnte der russische Vize-Außenminister Sergej Riabkow.

In Washington dauerte es knapp 13 Stunden, bis sich das Weiße Haus zu Wort meldete – eine ungewöhnlich lange Bedenkzeit. Was gestern zu den Sendungen des US-Politfrühstücksfernsehens aus der Regierungszentrale drang, klang ebenso schwammig wie besorgniserregend: „Die Welt hat Nordkoreas letzte Botschaft klar und deutlich verstanden. Das Regime hat seine Geringschätzung für seine Nachbarn, sämtliche Mitglieder der Vereinten Nationen und für Mindeststandards akzeptablen internationalen Verhaltens gezeigt. Bedrohende und destabilisierende Aktionen werden die Isolation des nordkoreanischen Regimes in der Region und in der ganzen Weltgemeinschaft weiter verschärfen. Alle Optionen sind auf dem Tisch.“

Vor allem der letzte Satz sorgte für Unruhe und viele Fragezeichen. Wird Präsident Donald Trump seine vor Wochen ausgestoßene Drohung, Nordkorea mit „Feuer und Wut“ zu begegnen, falls es Amerika oder dessen Verbündete angreift oder in Bedrängnis bringt, kurzfristig wahr machen? Trump telefonierte eine Fußball-Halbzeit lang mit Japans Premier Abe. Beide Länder seien in „totaler Übereinstimmung“, was die Verurteilung des „rücksichtslosen Akts“ angehe, hieß es. Das Weiße Haus hielt sich zunächst bedeckt. Der Präsident war am Morgen mit den Vorbereitungen seines Besuchs im texanischen Hurrikan-Katastrophengebiet beschäftigt, als sich die Experten über die jüngste Provokation Kim Jong-uns beugten. Richard Haas, Präsident des Forschungsinstituts Council on Foreign Relations, formulierte ein ungutes Gefühl. Trotz „hoher Risiken“ und „potenzieller Kosten“ könne ein militärischer Präventivschlag gegen Nordkorea nun eine „ernsthafte Option“ werden. Die Kernfrage sei, ob sich Pjöngjang zu einem Teststopp bewegen lasse.

Für Trump ist die neue Provokation Nordkoreas ein Tritt vor das Schienbein. Der Präsident hatte erst in der vergangenen Woche gesagt, Machthaber Kim beginne, „uns Respekt zu zollen“. Für das US-Außenministerium ist die Lage nach Informationen dieser Zeitung unklar. Der Raketentest könne entweder eine Verschärfung des Provokationskures von Nordkorea bedeuten. Oder er habe zum Ziel gehabt, nach den gescheiterten Tests vom Wochenende einen Nachweis von Fähigkeit abzuliefern. Außenminister Rex Tillerson, der am Dienstag mit seinem deutschen Amtskollegen Sigmar Gabriel in Washington zusammentraf, hatte zuletzt eine gewisse Zurückhaltung des Regimes gelobt. Seit der Verhängung neuer UN-Sanktionen wegen des Tests einer Interkontinentalrakete, die Amerika erreichen könnte, habe Kim „keine weiteren Provokationen“ mehr unternommen. Gestern war die Auszeit vorbei.