Berlin. Die große Koalition ist nicht alternativlos. Welche Bündnisse in den Ländern sich nach der Wahl am 24. September als Modell für den Bund empfehlen könnten

Gut fünf Wochen vor der Bundestagswahl geht die Union mit klarem Vorsprung in die heiße Wahlkampfphase. Doch welche Parteien nach dem 24. September die nächste Regierungskoalition bilden werden, ist noch völlig unklar. Die neueste Umfrage, die das Forsa-Institut für den „Stern-RTL-Wahltrend“ erhoben hat, lässt zwei Konstellationen am wahrscheinlichsten erscheinen: Ein Jamaika-Bündnis von Union, Grünen und FDP oder die Fortsetzung der großen Koalition, die beide Seiten aber eigentlich nicht wollen. Die Union liegt laut Umfrage bei 39 Prozent, die SPD kommt auf 23 Prozent. Die Linke verbessert sich auf neun Prozent, Grüne, FDP und die AfD bleiben bei acht Prozent der Stimmen.

Aber mehr als ein Viertel der Wähler sind unentschieden, schon kleine Verschiebungen könnten andere Bündnisse ermöglichen: Die Renaissance von Schwarz-Gelb, die erste schwarz-grüne Bundesregierung. Oder doch noch Rot-Rot-Grün? Vieles klingt ungewöhnlich – wird aber in den Bundesländern längst erprobt. Bunte Republik Deutschland: Wie gut arbeiten Koalitionen, die im Bund an die Stelle von Schwarz-Rot treten könnten? Der Blick in die Testlabors der Politik:

Geräuschlos, unaufgeregt, harmonisch – diese drei Attribute nennen politische Betrachter, wenn sie die Arbeit der aktuell einzigen Jamaika-Koalition in wenigen Worten beschreiben sollen. Das Land scheint mehr als nur seinen Frieden mit der Koalition von CDU, FDP und Grünen gefunden zu haben. Das Polit-Projekt wird in großen Teilen Schleswig-Holsteins mit Spannung und wohlwollendem Interesse betrachtet. Daniel Günther heißt der Mann, der die Koalition anführt. Nach ersten Erfahrungen im Norden kann er sich Schwarz-Gelb-Grün auch im Bund vorstellen. „Ich glaube, dass eine Jamaika-Konstellation auch im Bund funktionieren kann, besonders wenn es bei den Partnern menschlich stimmt“, sagte Günther dem „Tagesspiegel“. „Bei uns gab es vom ersten Tag an ein gemeinsames Verständnis der Spitzenleute.“ Günther schränkt aber ein, dass die Hürden zwischen Union, FDP und Grünen im Bund höher lägen als auf Landesebene: „Wir sind sicher leichter zusammengekommen.“

Hamburgs FDP-Chefin Katja Suding, die für den Bundestag kandidiert, sagt: „Was in Kiel bisher gut funktioniert, könnte theoretisch auch im Bund klappen.“ Das gelte aber auch für eine Ampel aus SPD, Grünen und FDP, „wie sie in Mainz erfolgreich arbeitet.“

Die Koalition hat sich vorgenommen, in den Bereichen Bildung, innere Sicherheit, Umweltschutz, Gesundheit, Energiewende und Verkehr Akzente zu setzen. Konkret heißt das, dass die Gymnasien wieder zu G9, also einer ein Jahr längeren Schulzeit, zurückkehren können. Auch mit den Grünen wird der Autobahnausbau vorangetrieben. Weiteres Ziel ist eine neue freiwillige Vereinbarung mit der Landwirtschaft zum Schutz der Gewässer vor Überdüngung.

Als in Hessen Anfang 2014 das erste schwarz-grüne Bündnis in einem Flächenland startete, sprachen auch die Beteiligten von einem Wagnis. Doch inzwischen sieht niemand mehr unüberwindbare Gegensätze, Union und Grünen haben sich zusammengerauft – politisch wie menschlich. Ein klarer Sparkurs, ein neuer „Schulfrieden“ in der Bildungspolitik und die innere Sicherheit sind Schwerpunkte. Zur bestandenen Bewährungsprobe wurde die Bewältigung der Flüchtlingskrise. Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) sieht seine Koalition schon als Modell für den Bund: Hessen habe gezeigt, dass Schwarz-Grün funktioniere. Ähnlich sieht es der Ministerpräsident in Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, der seit 16 Monaten die erste grün-schwarze Landesregierung anführt. Kretschmann lässt der CDU als Juniorpartner einigen Spielraum, vor allem bei der inneren Sicherheit kann sie sich profilieren, das erleichtert Kompromisse auf Konfliktfeldern wie Bildung oder Energie. Die Regierung arbeitet effizient, auch weil der wertkonservative und pragmatische Kretschmann im Zweifelsfall wenig Rücksicht auf Befindlichkeiten der eigenen Partei nimmt.

Dass in Nordrhein-Westfalen die aktuell einzige schwarz-gelbe Landesregierung Deutschlands gebildet werden könnte, schien vor der Landtagswahl im Mai undenkbar. Alle Umfragen verhießen eine große Koalition in Düsseldorf. FDP-Chef Christian Lindner schien die fortgesetzte Oppositionsrolle sogar ganz recht, wünschte er sich doch für seine Bundestagswahl-Kampagne maximale Beinfreiheit. Die Erinnerung an die letzte Streitkoalition mit der Union im Bund hat zudem Liberale an Rhein und Ruhr bis heute traumatisiert.

Am späten Wahlabend stand in NRW jedoch die hauchdünne schwarz-gelbe Landtagsmehrheit von einer Stimme – sie musste gefälligst genutzt werden. Umsichtig rief CDU-Ministerpräsident Armin Laschet „eine ganz neue Nordrhein-Westfalen-Koalition“ aus, die mit früheren schwarz-gelben Bündnissen nichts mehr zu tun habe. Von Neuerfindung und „Verheutigung“ der etabliertesten Regierungskonstellation der Bundesrepublik war hochtrabend die Rede. Lindner durfte immerzu betonen, dass NRW nicht die „verlängerte Werkbank“ der großen Koalition in Berlin sein werde. In den Koalitionsverhandlungen ließ Laschet den Liberalen viel Platz zur Profilierung als Wirtschafts- und Bürgerrechtspartei. Auf Betreiben Lindners wurden sogleich eine Reihe von Bundesratsinitiativen verabredet. Zudem überließ die CDU der FDP das wichtigste neue Querschnittsressort für Wirtschaft, Digitalisierung und Energie. CDU-intern erinnert Laschet gern Lehren Helmut Kohls: Der große Koalitionspartner könne nur erfolgreich sein, wenn er den kleinen großzügig gewähren lasse. In den ersten Wochen der Regierung scheinen sich alle dran zu halten.

Gerade hat die rot-rot-grüne Landesregierung in Thüringen ihre bislang schwerste Krise halbwegs überlebt. Nach viel öffentlicher Kritik und hartem inneren Streit wurde mit der Gebietsreform das wichtigste Strukturvorhaben verschoben. Damit hat sich die Koalition vorerst gerettet, doch die Niederlage ist peinlich genug. Dabei hatte die erste rot-rot-grüne Regierung Deutschlands, die im Dezember 2014 mit einer Ein-Stimmen-Mehrheit gebildet wurde, die Anfangszeit einigermaßen unfallfrei überstanden. Bodo Ramelow, der einzige Linke-Ministerpräsident der Republik, trat als gemäßigter Reformer an. Zu Hilfe kam der Koalition die gute Konjunktur: Rot-Rot-Grün konnte dank Rekordeinnahmen mehr ausgeben, ohne neue Schulden zu machen. Der Bildungsurlaub wurde eingeführt, ab 2018 soll es ein gebührenfreies Kita-Jahr geben. Der Regierungschef erreicht in Umfragen passable Beliebtheitswerte, doch für Rot-Rot-Grün würde es aktuell nicht mehr reichen. Zudem trat im Landtag eine SPD-Abgeordnete zur CDU über. Nur weil die Sozialdemokraten zuvor einen Ex-AfD-Mann aufgenommen hatten, hat die Linksregierung im Parlament noch eine Mehrheit.

In Berlin versprachen SPD, Linke und Grüne nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus im September 2016 ein „besseres Regieren“. Eine lange Sparpolitik hatte der Stadt eine Verwaltung mit zu wenig Personal hinterlassen und eine in Teilen marode Infrastruktur. Doch schon den Koalitionsvertrag empfanden viele als enttäuschend. Zu viele Details, zu viele Versprechen nur für die eigene Klientel. Ein deutliches Umsteuern ist in der Verkehrspolitik zu erkennen. Vorfahrt für Fahrräder, zurückstehen müssen die Autofahrer. Tragfähige Lösungen, um die Wohnungsnot zu lindern oder die Verwaltung auf Vordermann zu bringen, sind dagegen gar nicht oder nur schemenhaft zu erkennen. In Umfragen stellen die Berliner ihrer Regierung ein eher bescheidenes Zeugnis aus.

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer ist sich sicher: Ihre Ampelkoalition von SPD, Grünen und FDP ist auch eine Option für den Bund, wie die SPD-Politikerin sagt. Tatsächlich funktioniert die Ampel in Mainz besser als von Kritikern erwartet – wobei Dreyer klar dominiert, Grüne und FDP sich mit Nebenrollen begnügen. Wenn man vom Desaster um den gescheiterten Verkauf des Flughafens Hahn absieht, bei dem die Regierung einem Betrüger aufsaß, arbeitet die Ampel seit ihrem Start im Mai 2016 harmonisch und geräuschlos. Verbindendes Thema ist die Digitalisierung, Dreyer will das Land zum Innovationsstandort machen. Die Liberalen profilieren sich beim Ausbau der Infrastruktur, die Grünen in der Umwelt- und Energiepolitik. Für Dreyer ist das „ein Zukunftsmodell auch für andere“.