Gütersloh.

Alice Weidel steht noch keine zwei Minuten auf der Bühne, da beleidigt sie schon die Demonstranten. „Dahinten steht die Bildungsmisere der Bundesrepublik Deutschland“, ruft sie ins Mikrofon und zeigt auf die Protestierenden jenseits der Polizeisperre. „Eine Schande! Ein Witz!“ Die Antwort geben Trillerpfeifen, Rasseln und ein Sprechchor: „Nazis raus!“ So hört es sich an, wenn die Spitzenkandidatin der Alternative für Deutschland (AfD) Wahlkampf macht.

Gütersloh, Ostwestfalen, am vergangenen Freitag. Die AfD hat auf den Berliner Platz geladen, vor den Haupteingang von Karstadt. Alice Weidel ist hier geboren und 30 Kilometer entfernt zur Schule gegangen. Jetzt kommt die 38-Jährige als Spitzenfrau der AfD für die Bundestagswahl zurück in die Heimat. Ihr Gesicht hängt überlebensgroß links neben der Bühne. Rechts steht der Aufruf: „Hol dir dein Land zurück!“

Weidel und Alexander Gauland, 76 Jahre alt, sind die Frontleute einer Partei, die hart am rechten Rand unterwegs ist. Beide könnten bald im Bundestag sitzen. Weidel ist ehrgeizig und diszipliniert genug, um dort ebenfalls eine führende Rolle zu spielen. „See you later on the Karriereleiter“, stand über sie etwas ungelenk in der Abiturzeitung. Von Politik war damals noch keine Rede.

Der AfD-Kandidat interessiert sich für „alternatives Wissen“

Die Polizei ist an diesem Nachmittag für eine Straßenschlacht gerüstet; das aber stellt sich als unnötig heraus: Nur etwa 100 Menschen verlieren sich im strömenden Regen vor der Bühne. Die Zahl der Gegendemonstranten, vor allem Jusos, ist noch kleiner. Dass sie überhaupt in ihre Trillerpfeifen blasen dürfen, ist für den AfD-Gastredner, der vor Weidel sprechen darf, der Beweis für „die Kapitulation des Rechtsstaats“. Heißt: Protestieren darf nur die AfD.

Weidel selbst steht zunächst am Rand des Platzes, eine zierliche Frau in dunkelblauer Steppjacke und weißen Sportschuhen, die blonden Haare nach hinten gebunden. Einige AfD-Anhänger machen Selfies mit ihr, auf der Bühne verheddert sich der Gastredner in Details der Eurokrise. Auch in der Partei hat Weidel lange am Rand gestanden, obwohl sie seit der Gründung 2013 dabei ist. Erst als Parteichefin Frauke Petry auf die Spitzenkandidatur verzichtete, rückte sie in die erste Reihe. Frau, jung, unverbraucht: Auch Petry fiel in der Männerpartei AfD auf.

„Es ist etwas ganz Besonderes, in Gütersloh zu sprechen“, sagt Weidel und wischt sich Regentropfen von der Brille. Sie tritt das erste Mal unter freiem Himmel auf. Bisher hat die AfD Säle gemietet, findet inzwischen aber kaum mehr Vermieter. Weidel sagt, Verwandte seien da und Freunde. „Der da hat mich schon als Kind gekannt“, erzählt sie und zeigt auf den örtlichen Bundestagskandidaten – einen Immobilienunternehmer, der Kongresse über „alternatives Wissen“ organisiert und für den die Jusos und die DDR-Jugendorganisation FDJ das Gleiche sind.

Ihren Posten als Spitzenkandidatin verdankt sie Alexander Gauland. Der heimliche Vorsitzende hat in der AfD vor allem beim rechten Parteiflügel für sie geworben. Gegen dessen Frontfigur Björn Höcke hat Weidel im Januar ein Parteiausschlussverfahren losgetreten; zwei Monate später bekommt sie die Quittung: Höckes Freunde verhindern, dass sie Parteichefin von Baden-Württemberg wird. Aber Weidel lernt schnell. Als sie Spitzenkandidatin wird, versichert sie: „Natürlich mache ich mit Höcke Wahlkampf. Wir sind zwei Teile einer Partei.“ Auch mit Lästereien über Parteifreunde, sonst üblich in der AfD, fällt die Kandidatin nicht auf.

Als sie in Gütersloh endlich auf die Bühne kann, greift Weidel sich das Mi­kro und geht einige Schritte vor das Rednerpult. Die Textbausteine kann sie auswendig: In Deutschland gebe es „einen Verfall der Rechtsordnung“. Man könne „nicht jeden aufnehmen“, erst recht nicht Migranten ohne Ausbildung. „Die Menschen haben Angst!“, schallt Weidels Stimme aus den Lautsprechern. „Diesen Irrsinn kann keiner bezahlen!“ Wenn Flüchtlinge gewalttätig werden wie der Terrorist, der in Berlin „über den Weihnachtsmarkt gerauscht ist“, dann werde das als „Einzelfall“ kleingeredet. „Mich kotzt das an!“, ruft Weidel. Und noch einmal für alle: „Uns kotzt es an!“ Weil sie keine Kunstpause macht, klatscht niemand. Im Dauerregen ist das Publikum – mehr Männer als Frauen, offensichtlich alle keine Extremisten – ohnehin nicht in Stimmung. Nach 20 Minuten nur ist Weidels Rede zu Ende. Ihre gewöhnlich scharfe Kritik am Islam lässt sie heute weg.

Die Wutausbrüche auf offener Bühne sind das Erstaunlichste an dieser Frau, die auf den ersten Blick dem Klischee einer braven BWL-Studentin entspricht. Im direkten Gespräch ist Weidel freundlich und aufmerksam. Wenn sie von der Bühne zu AfD-Anhängern spricht, wird ihre Stimme schneidend, der Tonfall hämisch oder sarkastisch. Rhetorisch ist sie besser als ihre Parteivorsitzende Petry, formuliert weniger verschachtelte Sätze und spitzt zu. Auch Weidel verspricht einfache Lösungen: Migranten nach Afrika zurückschicken, raus aus dem Euro, Grenzen schließen – als ginge irgendetwas davon so leicht. In Gütersloh behauptet sie, die Diskussion um Bargeldobergrenzen – Weidel nennt sie „Bargeldverbot“ – habe nur einen Grund: „Man will verhindern, dass Sie Ihr Geld abheben, wenn die Negativzinsen kommen.“

Sie muss es besser wissen. Weidel hat Betriebs- und Volkswirtschaft studiert und über das Rentensystem in China promoviert – alles mit Bestnote. Aber ihre berufliche Karriere verliert nach Stationen bei der Investmentbank Goldman Sachs und beim Vermögensverwalter der Allianz an Fahrt. Weidel wechselt kurz in die Nahrungsmittelbranche, arbeitet dann frei im Internet-Business. Sie sagt jetzt, sie sei Unternehmensberaterin. Den letzten Auftraggeber, der öffentlich bekannt ist, verlässt sie im Sommer 2015 nach wenigen Monaten. Gleichzeitig wählt die AfD sie in den Bundesvorstand. Weidel kniet sich in die Politik, wie sie sich früher in Jobs gekniet hat. Ehemalige Weggefährten nennen sie ein „krasses Arbeitstier“. Weidel selbst gibt nicht viel über sich preis. Weder über ihre berufliche Karriere noch über ihr Privatleben. Bekannt ist, dass sie in Überlingen am Bodensee wohnt. Ihre Partnerin, Produktionsleiterin in der Filmbranche, lebt mit zwei kleinen Söhnen im schweizerischen Biel, fast drei Autostunden entfernt. Wie lange die beiden ein Paar sind und ob einer der Söhne Weidels Kind ist – kein Kommentar.

Schweizer Zeitungen schreiben, dass die beiden Frauen in Biel „in der Künstlerszene unterwegs“ sind und „in Kreisen, deren Ansichten jenen der AfD diametral entgegengesetzt sein dürften“. Weidel findet, dass das alles nicht im Widerspruch zu ihrer Politik steht. Nicht ihr international ausgerichteter Berufsstart und auch nicht ihr Privatleben. Dass eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft für die AfD keine Ehe ist, sei in Ordnung. Ihre Partnerin und ihre Familie unterstützten ihre politische Arbeit. Dass einige Freunde sich abgewendet haben, sei schade.

Ihr einziges Ziel, das sie jetzt hat, formuliert Weidel ganz direkt: „Hauptsache, ich sitze im Bundestag.“