Berlin.

Andere mögen sich eine Auszeit nehmen und in den Bergen wandern, eine Ursula von der Leyen (CDU) ist rastlos. Seit Ende Juli ist die Verteidigungsministerin unterwegs in der Truppe. Bis 11. September will sie insgesamt 13 Standorte besuchen. Man nennt es „Sommerreise“. Das hat was Heiteres. Aber diese Wochen sind für die Ministerin alles andere als unbeschwert. Von der Leyen ist im Krisenmodus – die negativen Nachrichten aus der Bundeswehr wollen einfach kein Ende nehmen.

In Mali kamen zwei Hubschrauberpiloten bei einem Absturz ums Leben. Im niedersächsischen Munster starb ein Offiziersanwärter nach einem Fußmarsch. Die Unglücksfälle sind nicht aufgeklärt und geben Rätsel auf. Und in Berlin übte die SPD zuletzt massiv Kritik an der Amtsführung der Ministerin.

In einem Beitrag für diese Zeitung hatten Kanzlerkandidat Martin Schulz und Fraktionschef Thomas Oppermann vor allem die geplante drastische Erhöhung der Verteidigungsausgaben von 1,25 Prozent auf zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts im Jahr 2024 kritisiert. Von der Leyen reagierte umgehend und verärgert über den Koalitionspartner. Die SPD zerdeppere in ihrem „total verkorksten Wahlkampf blindlings das Vertrauen“, sagte die CDU-Frau. Für neuen Unmut sorgt aktuell von der Leyens Plan, den sogenannten Traditionserlass bis Oktober zu überarbeiten. Der Abschluss würde in die Zeit fallen, in der ein neues Parlament gewählt, aber nicht konstituiert ist und der bisherige Bundestag formal amtiert.

Es geht um Tradition, um die Gespenster der Vergangenheit

Angesichts der inneren Lage der Bundeswehr dürfe ein neuer Traditionserlass „nicht ohne die Debatte des Parlamentes in Kraft gesetzt werden“, warnte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Wolfgang Hellmich (SPD), im Gespräch mit dieser Zeitung. Am Montag setzte Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) auf Drängen der Fraktionen eine Sondersitzung des Ausschusses für den 5. September an.

Hinter den Kulissen tobt ein Streit darüber, was überhaupt zur Sprache kommen soll: Neben den Unglücksfällen und der Frage, wie die Bundeswehr künftig mit ihren Traditionen umgehen soll, will die SPD über die Zusammenarbeit mit den französischen Streitkräften und über die neue Konzeption der Bundeswehr diskutieren. Das Misstrauen ist groß, dass die Ministerin Fakten schafft. Bei der Zusammenarbeit mit Frankreich wollen die Abgeordneten nach einzelnen Rüstungsprojekten fragen und vor allem sichergehen, dass die Bundeswehr nicht in Auslandsmissionen der Franzosen hineingezogen wird. Die Neukonzeption ist wiederum ein zentrales Dokument, das Leistungsprofil, Fähigkeiten, Kapazitäten, Zusammenhänge, Prinzipien und Vorgaben für die Bundeswehr setzt und erklärt. Daran wurde das Parlament dem Vernehmen nach bisher nicht beteiligt.

Ursprünglich hatte von der Leyen die Konzeption für diesen Sommer angekündigt, genauer: für August. Schon das hielten Wehrpolitiker wie Rainer Arnold von der SPD für „völlig inakzeptabel“ und gegenüber den Parlamentariern für „extrem unanständig“. Nun heißt es im Ministerium, die Arbeit sei noch nicht abgeschlossen; vor der Wahl sei damit auch nicht mehr zu rechnen.

Formal korrekt unterscheidet die Ministerin zwischen der Bundestagswahl und dem Ende der Legislaturperiode. Die Wahl ist am 24. September, das neue Parlament muss sich innerhalb von 30 Tagen konstituieren. Der Argwohn ist groß, dass von der Leyen in diesem politisch unübersichtlichen Zeitraum, im toten Winkel der Öffentlichkeit, über die Neukonzeption entscheidet. Sie darf das, es ist Regierungshandeln und kein Gesetz, über das förmlich abgestimmt werden müsste. Aber Abgeordnete wie Arnold fühlen sich überfahren. Das neu gewählte Parlament müsse sich erst finden. Nach jeder Wahl werden im Bundestag die Uhren politisch auf Null gestellt.

Was die Abgeordneten im Umgang mit der Neukonzeption befürchten, zieht von der Leyen bereits beim Traditionserlass durch. Der Diskussionsprozess begann im Juni. Der nächste Workshop wurde für diesen Donnerstag an der Führungsakademie in Hamburg angesetzt und die letzte Diskussionsrunde wird für Oktober angepeilt – nach der Wahl. Von der Leyen hat ein hohes Interesse, das Thema möglichst aus dem Wahlkampf herauszuhalten.

Denn: Nicht umstrittene Rüstungsprojekte, auch nicht die Auslandseinsätze – die Traditionspflege ist unversehens zum Reizprojekt ihrer Amtszeit geworden. Im Mai hatte von der Leyen nach der Affäre um den unter Terrorverdacht stehenden rechtsextremen Oberleutnant Franco A. eine „Nulllinie“ im Umgang mit Wehrmachtsgedankengut angeordnet. Seither kommt es vielen Offizieren vor, als würden sie mit dem Nazi-Ring durch die Manege geführt. Damals hatte die Ministerin alle Kasernen nach Andenken an die Wehrmacht durchsuchen lassen. Das erklärte Ziel war, gemeinsam just jene Linie zu ziehen, „ab der keinerlei Wehrmachtsdevotionalien ohne jegliche historische Einordnung – das ist das Entscheidende – mehr ausgestellt sein dürften“. Die Wehrmacht sei in keiner Form traditionsstiftend für die Bundeswehr, mal abgesehen von einigen herausragenden Einzeltaten im Widerstand. Man müsse stärker die über 60-jährige Geschichte der Bundeswehr in den Mittelpunkt des Traditionsverständnisses stellen, hatte von der Leyen angeregt.

Es geht um Führungskultur, Traditionspflege, um die „Gespenster der Vergangenheit“, die nicht vollständig ausgetrieben wurden – beim Aufbau der Bundeswehr standen viele ehemalige Wehrmachtssoldaten Pate. Der letzte „Traditionserlass“ ist seit 35 Jahren unverändert geblieben.

In der Truppe rumort es. Beim Empfang des Wehrbeauftragten Ende Juni hat der Chef des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, die Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt (IBuK) regelrecht vorgeführt. Der Stein des Anstoßes war ein Statement der Ministerin am 30. April im ZDF: „Die Bundeswehr hat ein Haltungsproblem, und sie hat offensichtlich eine Führungsschwäche auf verschiedenen Ebenen.“ Das war zu pauschal nach Ansicht vieler Soldaten. Von der Leyen hat ihre Einschätzung alsbald wieder eingeordnet.

Das Vertrauensverhältnis sei zerrüttet und nicht zu kitten

Doch SPD-Wehrexperte Arnold ist überzeugt, dass seither das zerrüttete Vertrauensverhältnis zwischen Dienstherrin und dem Gros ihrer 250.000 Untergebenen, Soldaten wie Zivilisten, nicht mehr zu kitten ist. Die SPD hat allzu begierig Wüstners Stichworte aufgenommen. „Wer eigentlich“, fragten Schulz und Oppermann, „hat hier ein Haltungsproblem – die Bundeswehr oder ihre Chefin Ursula von der Leyen?“

Die Ministerin weiß, dass sich was zusammenbraut. Auf der Sommerreise sucht sie die Nähe der Soldaten. Es wäre der versöhnliche Ausklang von vier Jahren an der Spitze der Streitkräfte. Im dpa-Interview bezeichnete sie es als das schwerste Amt, „das ich je inne hatte“.