Palma de Mallorca.

Im Nassau Beach Club sind es 36 Grad im Schatten, die Luft ist feucht. Christian Lindner (38) verbringt mit seiner Frau und Freunden einige Tage auf Mallorca, bevor es richtig losgeht im Bundestagswahlkampf. Er trägt Jeans und ein weißes Hemd, später will er sich auf der örtlichen Go-Kart-Bahn verausgaben. Der FDP-Chef und Spitzenkandidat genießt die Umfragen, die eine Rückkehr der Liberalen ins Parlament vorhersagen. Im Interview vertritt er eine harte Linie in Flüchtlingsfragen und nennt Voraussetzungen für eine Regierungsbeteiligung.

Sie werden mit Emmanuel Macron und Justin Trudeau verglichen, gerade in der eigenen Partei. Was verbindet Sie mit dem französischen Präsidenten und dem Premierminister Kanadas, Herr Lindner?

Christian Lindner: Zufälligerweise das Alter. Aber ansonsten handelt es sich um zwei Regierungschefs, ich bin nur Vorsitzender einer kleinen Partei außerhalb des Parlaments. Wie viele bin ich beeindruckt von der Tatkraft, die diese beiden Politiker ausstrahlen. Sie sind weltläufig, modern, cool – und haben den Mut zur Veränderung.

Sind charismatische Persönlichkeiten die besseren Politiker?

Nicht zwingend. Aber es gibt eine Sehnsucht nach Leidenschaft und neuem Denken, die diese beiden mobilisieren. In Deutschland haben wir uns daran gewöhnt, Politiker gut zu finden, die beruhigend und langweilig sind. Die Verwaltung des Status quo gilt bei uns als Tugend. Freundliche Grüße an Frau Merkel!

Der Wahlkampf der FDP ist ganz auf Ihre Person zugeschnitten. Was setzen Sie sich für den 24. September zum Ziel?

Nein, das mit dem Zuschnitt auf mich ist ein Märchen. Die Spitzenkandidaten stehen überall im Zentrum. Das Besondere bei uns ist, dass wir mehr Programm auf den Plakaten haben als alle anderen. Wir möchten dritte Kraft werden, weil die Opposition gegen eine neue große Koalition aus der Mitte angeführt werden sollte.

Haben Sie Parteifreunde, die auch eine Regierungskoalition prägen können?

Moment, wir wollen nicht regieren um jeden Preis. Und wenn, dann setzen wir auch auf Experten von außen. In NRW wurde mit Andreas Pinkwart ein Uni-Rektor Minister, in Schleswig-Holstein mit Bernd Buchholz ein Manager. Ich wünsche mir, dass es ein Markenzeichen der FDP wird, Spitzenkräfte aus der Praxis für die Politik zu gewinnen.

Welche Aussichten haben Ihre Landespolitiker?

Wer einen Beitrag zum Wiederaufbau der FDP geleistet hat, wird nach dem 24. September eine tragende Rolle in der Bundespolitik spielen. Katja Suding – um nur ein Beispiel zu nennen – hat bei der Hamburg-Wahl die Trendwende geschafft.

Als die FDP 2009 nach einigen Jahren in der Opposition wieder an die Regierung kam, war sie vor allem eines: unvorbereitet. Es folgte ein Dauerstreit mit dem Koalitionspartner Union. Können Sie ausschließen, dass sich so etwas wiederholt?

So einseitig übernehme ich die Analyse nicht. Die Union hat die Projekte der FDP hintertrieben. Daraus haben beide gelernt, wie etwa die Regierungsbildung in Düsseldorf gezeigt hat. Aber ich werde nicht versprechen, dass wir keine Fehler machen werden. Wir sind nur Menschen und deshalb vor Irrtümern nicht sicher. Ich kann versprechen, dass wir nicht dieselben Fehler wie früher machen. Wir werden uns neue einfallen lassen, um mit Selbstironie und Demut aus ihnen zu lernen.

Was bedeutet das für Ihre Steuersenkungsversprechen?

Witzig, dass Sie zuerst nach Steuern fragen und nicht zum Beispiel nach besserer Bildung, Tempo für die Digitalisierung und der Lösung bürokratischer Fesseln. Das alles ist genauso wichtig wie die Entlastung der Bürger bei Steuern und Sozialabgaben.

Eine Woche vor der Wahl will die FDP auf einem Sonderparteitag zehn Punkte beschließen, die in einem Koalitionsvertrag stehen müssten. Welche werden das sein?

Einen Punkt kann ich vorwegnehmen: Deutschland benötigt endlich ein Einwanderungsgesetz und klare Regeln, um die Zuwanderung zu ordnen. Wir müssen unterscheiden zwischen Flüchtlingen, die Deutschland wieder verlassen müssen, wenn die Lage in ihrem Heimatland das ermöglicht, und qualifizierten Arbeitskräften, die wir in unser Land einladen wollen. Es ist ein Versäumnis der Bundesregierung, Herrn Macron mit seinen Vorschlägen für eine europäische Flüchtlingspolitik alleinzulassen. Ich erwarte, dass Deutschland und Frankreich gemeinsame Initiativen für Grenzschutz und die Sicherung des Mittelmeers ergreifen. Wir müssen mit den Regierungen in Nordafrika daran arbeiten, dass auf dem Festland dort Asylanträge gestellt werden können – oder Anträge für legalen Zugang nach Europa, wenn es sich um Qualifizierte handelt.

Wenn Sie das zur Koalitionsbedingung machen, wird es ein Jamaika-Bündnis aus Union, FDP und Grünen nicht geben.

Wir orientieren uns an Überzeugungen und nicht an taktischen Überlegungen. Unsere Handschrift muss sichtbar sein, sonst gehen wir in die Opposition. Dass wir unser Programm in einer Koalition nie vollständig umsetzen können, ist doch klar. Das sage ich ganz offen. Wir freuen uns über wachsenden Zuspruch, aber Euphorie vor der Wahl darf nicht in Enttäuschung umschlagen, weil falsche Erwartungen geweckt wurden. Im Übrigen glaube ich nicht, dass wir nach der Wahl mit den Grünen an einem Kabinettstisch sitzen werden.

Warum nicht?

Die Grünen sind gegenwärtig günstig zu haben, weil deren Spitzenpersonal die letzte Chance hat. Im Unterschied zu früher entscheidet bei uns aber jetzt die Parteibasis über Regierungen. Und die ist anspruchsvoll geworden. Am wahrscheinlichsten ist eine Neuauflage der großen Koalition.

Warum stellen Sie das Flüchtlingsthema in den Vordergrund? Fürchten Sie eine Rückkehr der Krise?

Ich stelle das nicht in den Vordergrund. Aber die Zuwanderung wird für Europa ein prägendes Thema bleiben. Wir haben stark steigende Ausgaben für Hartz IV, wir haben eine steigende Arbeitslosigkeit von Geringqualifizierten. Wir haben steigende Flüchtlingszahlen, wir haben Wanderungsbewegungen in Afrika. Keines dieser Probleme ist gelöst. Wir brauchen kluges Management und nicht den Alarmismus von Herrn Schulz. Die SPD regiert seit vier Jahren mit, und man fragt sich, was sie zur Bewältigung der Flüchtlingskrise beigetragen hat.

Sind die Fehler des Jahres 2015 nicht korrigiert?

Es war falsch von Frau Merkel, ohne Absprache mit unseren europäischen Partnern die Grenzen zu öffnen. Wir waren damals zu Recht sehr kritisch. Aber jetzt muss man nach vorne schauen. Auf der europäischen Ebene werden Chancen vertan. Die Flüchtlinge sollten gar nicht erst aufs Mittelmeer gelangen. Und die Nichtregierungsorganisationen dürfen nicht zu Helfern der Schlepper werden.

Verurteilen Sie die Retter?

Auch edle Motive können zu schlechten Ergebnissen führen. Wenn auf eigene Faust und ohne Einbettung in eine internationale Strategie Rettungsschiffe unterwegs sind, ist das ein Signal an Schlepper, dass man Flüchtlinge alleinlassen kann. Das Ziel muss sein, dass Schlepperboote nicht die Küstengewässer verlassen können – und dass die Flüchtlinge an Bord an den Startplatz zurückkehren, statt nach Europa zu gelangen. Deutschland, Frankreich und Italien müssen ihr Engagement zur Schaffung stabiler Zonen in Libyen massiv verstärken. Außenminister Gabriel macht zu wenig. Das ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Flüchtlinge zurück an die Küste gebracht werden können.

Unter den Asylbewerbern sind auch einzelne Islamisten, die Terroranschläge begehen. Das hat sich zuletzt in Hamburg gezeigt. Was folgt daraus?

Haft und Abschiebung. Wir müssen ausreisepflichtige Gefährder schneller in Abschiebearrest nehmen und schnellstmöglich ausweisen, die rechtlichen Möglichkeiten dazu gibt es. Und wir müssen klare Verabredungen mit den Herkunftsländern über die Rücknahme von Staatsangehörigen treffen und darüber robust verhandeln.

Robust?

Staaten, die keine Verantwortung für ihre Staatsbürger übernehmen, müssen Konsequenzen spüren. Das kann Entwicklungshilfe, Tourismus oder Handel betreffen.

Kann man Menschen guten Gewissens nach Afghanistan abschieben?

Das müssen Regierung und Gerichte beurteilen. Der Maßstab ist, ob es innerhalb eines Staates sichere Regionen gibt.

Ist Deutschland darauf angewiesen, dass sich der türkische Präsident Erdogan an das Flüchtlingsabkommen hält?

Wir dürfen nicht erpressbar sein. Die Abhängigkeit hat sich auch stark reduziert. Durch die Sicherung der europäischen Außengrenzen mit einer gemeinsamen Polizeitruppe sollten wir uns komplett daraus befreien. Es gibt keinen Grund zur Rücksichtnahme auf Erdogan. Jedes Entgegenkommen ist ein Schlag in die Kniekehlen der proeuropäischen Opposition.

Was würde ein Außenminister der FDP unternehmen, um die deutschen Journalisten und Menschenrechtler aus türkischer Haft freizubekommen?

Die Sprache, die Erdogan versteht, ist leider Härte. Es hätte längst Schluss sein müssen mit der Beschwichtigungspolitik. Die Gespräche über eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union müssen sofort beendet werden. Der Beitrittsprozess ist doch nur noch ein Zombie.

Härte – was bedeutet das für die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen?

Solange die Türkei deutsche Staatsbürger als Geiseln hält, dürfen Handel und Investitionen nicht mit staatlichen Hermes-Bürgschaften abgesichert werden. Es darf auch keine Visa-Erleichterungen geben. Und sämtliche Waffenlieferungen – Nato hin oder her – müssen auf Eis gelegt werden. Die Bundesregierung hat viel zu spät reagiert und die Ampeln nur auf Gelb gestellt. Ich fordere: Alle Ampeln auf Rot. Die Beziehungen zur Türkei brauchen einen Neustart. Das gilt im Übrigen auch für das Verhältnis zu Russland.

Inwiefern?

Wir müssen raus aus der Sackgasse. Ich bin einerseits auch hier für Entschiedenheit, eine klare Rückenstärkung unserer osteuropäischen Nato-Partner und das Festhalten an der Priorität der Beziehungen zu den USA. Andererseits muss es Angebote geben, damit Putin ohne Gesichtsverlust seine Politik korrigieren kann. Die Sanktionen sollten nicht erst fallen können, wenn das Friedensabkommen von Minsk vollständig erfüllt ist. Auch positive Zwischenschritte müssen gewürdigt werden. Wir sollten versuchen, in das Verhältnis zu Russland wieder Bewegung zu bekommen. Sicherheit und Wohlstand in Europa hängen auch von den Beziehungen zu Moskau ab. Um ein Tabu auszusprechen: Ich befürchte, dass man die Krim zunächst als dauerhaftes Provisorium ansehen muss.

Sie wollen sich damit abfinden, dass Russland einen Teil der Ukraine annektiert hat?

Nein, aber diesen Konflikt wird man einkapseln müssen, um an anderen Stellen Fortschritte zu erzielen. Die Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion haben wir auch nie anerkannt, trotzdem konnten Staatsmänner wie Willy Brandt und Walter Scheel eine Ostpolitik entwickeln, die Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher fortgesetzt haben, bis hin zur deutschen Einheit. Dieser Wandel durch Annäherung von einem festen Fundament aus war neues Denken. Das brauchen wir auch heute, für mehr Dialog und mehr Kreativität im Umgang.

In der zweiten Folge erscheint am kommenden Sonnabend ein Interview mit Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt