Berlin.

Angela Merkel fand die Aufgabe überaus interessant. Wann habe man das schon, „so und so viele Milliarden an Freiräumen, wann können sie das schon machen,“ fragte die Kanzlerin und CDU-Chefin am Montag bei der Vorstellung des Wahlprogramms der Union. „Hier können Sie einfach nochmal ein bisschen träumen, was Sie glauben, was in den nächsten vier Jahren notwendig ist.“ So also verstand sie die Arbeit am Programm: als Wunschliste für den Wahlkampf in den kommenden 83 Tagen. Da fiel es den Christdemokraten natürlich leicht, einen Katalog aufzustellen, der „das Land zusammenführt und nicht spaltet“, wie Merkel erklärte.

„Eine runde Sache“, meinte CSU-Chef Horst Seehofer, „es gab in all den Monaten, in vielen, vielen Stunden, nie einen Streit. Weder innerhalb der CSU noch innerhalb der CDU noch zwischen CDU und CSU.“ Dass die monatelangen Beratungen tatsächlich reibungslos über die Bühne gingen – viel einfacher als noch vor einem Jahr für möglich gehalten wurde – hat mehrere Ursachen. Zum einen ist die Verteilungsmasse groß, die Steuereinnahmen sprudeln. Auch haben die Schwesterparteien – anders als die SPD – ein schwieriges Zukunftsthema vertagt: eine Rentenreform. Zum anderen war die Programmarbeit weitgehend Chefsache. Viele haben zugearbeitet, aber jeder hatte nur Einblick in seinen eigenen kleinen Fachbereich. Selbst Präsidiumsmitglieder bekamen das 76-seitige Papier – das Gesamtkunstwerk – erst am späten Sonntagabend zum ersten Mal zu sehen. Da war nicht mehr viel an dem zu ändern, was die Parteichefs, ihre Generalsekretäre und allen voran Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) aufgeschrieben hatten. Am Montag wurde das Programm in Berlin einstimmig verabschiedet, eine breite, streitige oder gar öffentliche Diskussion war nicht vorgesehen. Hilfreich war, dass die CSU der „Schwesterpartei“ eine Zumutung erspart hat: die Forderung nach einer „Obergrenze“ für die Zuwanderung.

Noch 2016 hatte der bayerische Ministerpräsident der Bundesregierung eine Verfassungsklage gegen ihre Flüchtlingspolitik angedroht und eine „Obergrenze“ zur Bedingung für eine Koalition gemacht. Jetzt spricht Seehofer davon, dass er zu Merkel ein „blindes Vertrauen“ habe – von ihr hat man das umgekehrt so klar nicht vernommen – und dass man erst einmal die Wahl gewinnen wolle. „Wir lassen das mal so stehen“, erläuterte die stellvertretende CSU-Chefin Angelika Niebler den Umgang mit der Obergrenze. Wohlgemerkt: Die CSU lässt die Forderung nicht fallen. Sie wird im „Bayernplan“ wieder auftauchen, im eigenständigen Programm, das die Partei am 23. Juli beschließen will. Seehofer betonte aber, der Plan sei kein „Anti-Regierungsprogramm“. Dort werde „nichts infrage gestellt“, sondern „mit bayerischer Sprache formuliert – so wie wir halt reden“. Die Zahl der Flüchtlinge liegt nach Seehofers Angaben in diesem Jahr bei 80.000, also deutlich unter der gedachten Obergrenze von 200.000, die damit „juristisch keine Rolle“ spiele. Und danach? „Dann schauen wir weiter.“

Auch die Kanzlerin trug ihren Teil zum Friedensschluss bei. Im Programm tritt die Union insgesamt dafür ein, dass sich ein Jahr wie 2015 mit fast einer Million Flüchtlinge nicht wiederholen werde. Dort heißt es weiter, wie Seehofer genüsslich zitiert, dass „alle Seiten“ gelernt hätten. In der CSU werden solche Sätze als Selbstkritik der Kanzlerin verstanden. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) betonte, „wir wollen Migration steuern und reduzieren.“

Herrmann ist eine Schlüsselfigur. Er gilt als die personifizierte Obergrenze. Seehofer hat ihn überredet, für den Bundestag zu kandidieren. Falls die Union die Wahl gewinnen sollte, wird die CSU darauf drängen, dass ihr Mann Innenminister wird und faktisch sicherstellt, dass Deutschland nicht noch mal Hunderttausende Flüchtlinge aufnimmt.

Programmatisch radikal war Merkel nur einmal in ihrer Karriere, 2003 in Leipzig. Es war ein neoliberales Programm, auch für die CDU ein Kurswechsel, den der Wähler zwei Jahre später bei der Bundestagswahl freilich nicht honoriert hat. Damals wäre Merkel als Herausforderin von Gerhard Schröder (SPD) beinahe gescheitert. Sie lernte daraus und legte danach vor Wahlen Programme vor, die jedenfalls nicht groß anecken sollten. Das Ziel der Vollbeschäftigung zum Beispiel erschien ihr vor vier Jahren noch zu kühn, und auch im aktuellen Programm gibt sie es nur als Vision für 2025 aus – denkt Merkel schon an die übernächste Legislaturperiode?