Strassburg.

Helmut Kohl wollte es so. Genau so. Genau hier. „Es war sein Wunsch, hier in Straßburg Abschied zu nehmen“, erzählt Jean-Claude Juncker, der als ein Freund redet, der EU-Kommissionspräsident geworden ist – in dieser Reihenfolge, darauf legt Juncker Wert. Er hält am Sonnabend die emotionalste Rede auf dem europäischen Trauerakt – einem Novum – für den verstorbenen Altkanzler im EU-Parlament. „Lieber Helmut, du bist, so denke ich, im Himmel“, schließt er, „ruhe in Frieden, Herr Bundeskanzler, lieber Freund.“

Die Welt nimmt Abschied von Kohl, verneigt sich vor ihm. Das ist keine Übertreibung bei einem Trauerakt mit fast 20 Staats- und Regierungschefs (und vielen ehemaligen), bei dem der frühere US-Präsident Bill Clinton („Ich habe ihn geliebt“) und der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew sprechen. Das letzte Wort hat Kohls Nachfolgerin, Bundeskanzlerin Angela Merkel, bevor die Zeremonie kurz vor 13 Uhr zu Ende geht und der mit der blauen Europaflagge bedeckte Sarg aus dem Plenarsaal getragen und über Ludwigshafen nach Speyer gebracht wird, wo Kohl am Abend beigesetzt wird.

Viele der Gäste verharren einen Augenblick lang

Damit schlage man den Bogen, meint Merkel, von Frankreich nach Deutschland, von Europa in die heimatliche Pfalz. „Lieber Bundeskanzler Helmut Kohl“, sagt sie ergriffen, „dass ich hier stehe, daran haben Sie entscheidenden Anteil. Danke für die Chancen, die Sie mir gegeben haben.“ Als frühere DDR-Bürgerin verdankt sie ihm die Freiheit und ihre Karriere. Es gab eine Zeit, da galt Merkel als „Kohls Mädchen“.

Gegen acht Uhr wird der Sarg in das Parlamentsgebäude getragen und erst im Protokollsaal im ersten Stock aufgebahrt. Viele der Gäste verharren hier, verneigen sich. Ein Kondolenzbuch liegt aus, links und rechts vom Eingang prangen großformatige Fotos des verstorbenen Kanzlers, Schwarz-Weiß-Aufnahmen: Kohl als einsame Größe, Kohl Hand in Hand mit Präsident François Mitterrand in Verdun, Kohl mit Konrad Adenauer, seinem großen Vorbild.

Die Sitzreihen sind im Halbrund um ein Podium aufgestellt, Freunde und Familie sitzen vorn, rechts vom Sarg. Es sind nicht viele Plätze, nur 27, die Zahl sagt einiges über die Unversöhnlichkeit zwischen den Kohl-Söhnen und der Witwe aus.

Wo sonst das Parlamentspräsidium sitzt, spielen gegen 11.10 Uhr die jungen Musiker des Straßburger Universitätsorchesters die ersten Töne des Trauermarsches aus „Saul“ von Georg Friedrich Händel, derweil acht Soldaten des Wachbataillons der Bundeswehr den Sarg in den Plenarsaal tragen und ihn in der Mitte des Raums absetzen. Davor liegen drei Kränze, einer davon geschmückt mit schwarz-rot-goldenen Schleifen. Das Rednerpult steht dahinter, etwa auf einer Höhe mit einem Porträt des Altkanzlers, einer Aufnahme jüngeren Datums, leicht zu erkennen an den starren Gesichtszügen; eine Folge des Schlaganfalls, den er erlitten hatte.

Die Witwe Maike Kohl-Richter wird von Juncker, Parlamentspräsident Antonio Tajani und EU-Ratschef Donald Tusk begleitet, die auch die ersten Reden halten. Den Ablauf kann man in drei Blöcke aufteilen: Erst sind drei „Europäer“ dran, im zweiten Teil ergreifen der frühere spanische Ministerpräsident Felipe González, Clinton und Medwedew das Wort, im dritten und letzten Block sind der französische Präsident Emmanuel Macron und Merkel an der Reihe.

Tajani erinnert daran, dass Kohl als junger Mann „den Albtraum“ des Weltkrieges erlebt hat. Vieles, was man heute mit Kohl verbindet und sogar Staatsräson ist, war eine Folge daraus: die Aussöhnung mit Frankreich, die Verbundenheit mit Israel, die europäische Einigung, schließlich die deutsche Einheit. Einer der in Straßburg meistzitierten Sätze, den Kohl verinnerlicht hatte, ist vom Schriftsteller Thomas Mann, der kein deutsches Europa wollte, sondern sich ein europäisches Deutschland wünschte. Macron ist der jüngste Redner. Für ihn war Kohl schon vor seinem Tod „Geschichte“. Aber der französische Präsident sieht sich und Merkel in der Pflicht, Kohls europäischem Projekt „wieder Sinn und Dichte zu verleihen“.

Dass Kohl nicht nur ein Politiker war, sondern vor allem ein Mensch mit Herz, daran erinnern sich diejenigen, die es wirklich können: Juncker sah ihn weinen, vor Freude, als die EU erweitert wurde. „Versprich mir, dass du dort (im Himmel) nicht als Erstes einen CDU-Ortsverband gründest“, sagt er sehr persönlich. Clinton erzählt, seine Frau Hillary habe über Kohl gesagt, er habe noch mehr als Bill das Essen geliebt. „Er hat mich dazu bewogen, Dinge zu essen, die ich nicht essen wollte.“

Die Deutschen machen ein Drittel der Gäste aus. Es sind viele da, Minister, Ministerpräsidenten, frühere Kohl-Minister wie Theo Waigel oder Jürgen Rüttgers, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und zwei Vorgänger (Horst Köhler und Joachim Gauck). SPD-Chef Martin Schulz – lange Zeit Parlamentspräsident in Straßburg – sitzt inmitten früherer Kollegen. Merkel aber ist die einzige Vertreterin Deutschlands, die das Wort ergreifen darf. Sie ist die Einzige, die Kohls verstorbene Frau Hannelore erwähnt und andeutet, dass der „Nachkriegsgigant“ (Juncker über Kohl) zu Lebzeiten keinen Heiligenstatus hatte. „So manche Geister schieden sich an ihm“, sagt sie. „Auch ich kann davon erzählen, doch all das tritt zurück hinter seinem überragenden Lebenswerk.“

Kohl nutzte Speyer immer wieder für Staatsbesuche

Der Tag endet am Abend in Speyer, in der 50.000-Einwohner-Stadt, die Kohl immer wieder für Staatsbesuche nutzte. Die Ankunft des Schiffskonvois mit dem Sarg aus Ludwigshafen findet nach Plan statt, das Ehrenspalier, die Fahrt des Sargwagens entlang der Rheinallee wird von 1000 Polizisten begleitet.

Dass Speyer als Ort für die Beisetzung ausgewählt wurde, geht auf eine Initiative von Maike Kohl-Richter zurück. Laut dem Bistum Speyer kam sie vor etwa zwei Jahren auf die Stadt zu und fragte, ob der Altkanzler hier begraben werden könne. Kohl selbst habe diesen Wunsch geäußert. Sie war es auch, die die Musik mit aussuchte für das Requiem im Dom. Der Gottesdienst beginnt mit der „Toccata und Fuge in d-Moll“, Kohls Lieblingsstück von Bach.

Vor dem Altar des fast 1000 Jahre alten Doms liegt der Sarg, jetzt bedeckt mit einer deutschen Flagge. 1500 Gäste sind gekommen. Karl-Heinz Wiesemann, der Bischof von Speyer, weist später darauf hin, warum Kohl diesen Raum so sehr mochte, dass sein Trauergottesdienst hier stattfinden sollte. „Es war nicht nur der Atem menschlicher Geschichte, sondern auch der große Atem des Gebetes unzähliger Menschen und Generationen, der für ihn in diesem Haus existenziell spürbar war.“

Der Gottesdienst endet mit Gesang: „Zum Paradies mögen Engel dich geleiten.“ Der Sarg wird von Bundeswehrsoldaten aus der Kirche getragen, durch die großen Portalflügel des Doms, hinaus in den Regen. Die Flügel, so Bischof Wiesemann, waren ein Geschenk der Landesregierung, und als solches wurden sie damals vom Ministerpräsidenten übergeben: von Helmut Kohl.