Paris.

Schon bei den ersten Hochrechnungen am Sonntagabend wurde deutlich: Die Partei des neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron hat bei der zweiten Runde der französischen Parlamentswahlen einen klaren Sieg eingefahren. Gemeinsam mit der verbündeten Zentrumspartei MoDem eroberten die Kandidaten von Macrons La République en Marche (LREM) rund 366 der 577 Abgeordnetenmandate. Die endgültige Sitzverteilung in der Nationalversammlung war erst am späten Abend klar, dürfte das Ergebnis aber nicht mehr nennenswert verändert haben: Frankreichs junger Präsident kann sich auf eine breite Regierungsmehrheit stützen.

Diese hohe Zahl von LREM-Abgeordneten im Parlament hatte sich schon nach der ersten Wahlrunde vor einer Woche abgezeichnet. Vertreter der übrigen Parteien warnten daraufhin vor der Gefahr eines Ein-Parteien-Staats. Die Kritik der Verlierer, die in den nächsten fünf Jahren ein Schattendasein fristen werden, ist aber unredlich: Von dem Mehrheitswahlrecht, das die stärkste Partei überproportional begünstigt, profitierten in der Vergangenheit sowohl die Sozialistische Partei (PS) als auch die konservativen Republikaner (LR).

Einen Umbruch für die Republik bedeutet der LREM-Durchmarsch zur mehr als absoluten Mehrheit aus einem anderen Grund: Er hat dem herkömmlichen Zwei-Parteien-System den Todesstoß versetzt. Seit 1958 regierten in Frankreich entweder die Sozialisten oder die Konservativen, PS und LR wechselten sich an der Macht einfach ab. Doch Macron hat mit seiner neuen Formation der Mitte die Traditions­parteien überrannt, die Konservativen auf 125 Mandate (zuvor 199) zurückgestutzt und sie Sozialisten (34 statt 290 Mandate) sogar regelrecht an die Wand gedrückt. Deren seit einer gefühlten Ewigkeit tonangebenden und durch zahllose Affären diskreditieren Spitzenvertreter – von Nicolas Sarkozy über François Hollande und François Fillon bis hin zu Alain Juppé – wollten die Wähler nicht mehr auf der Bühne sehen. Die Politikverdrossenheit ist so groß, dass nicht einmal das Korsett des Mehrheitswahlrechts die alte Ordnung zu retten vermochte.

Dass diese Ordnung schon in Gefahr war, bevor Macron antrat, unterstrich das zuletzt bedenkliche Erstarken der extremen Ränder bei der Präsidentenwahl. Vier von zehn Franzosen stimmten damals in der ersten Runde entweder für die rechtsextreme Kandidatin Le Pen oder den Linkspopulisten Mélenchon. Es gab also reichlich Bedarf für ein neues politisches Angebot in Frankreich. Nun ist es diese neue Mitte, die im Licht steht, und nicht die Rechtsextremisten (neun Sitze) oder die Linksradikalen (19 Sitze).

Macron muss verlorenes Vertrauen wiederherstellen

Doch auch wenn sich das politische System der Fünften Repu­blik seit gestern bereits verändert hat, gilt das noch lange nicht für die Bürger. Macron, seine zur Hälfte mit Vertretern der Zivilgesellschaft besetzte Regierungsmannschaft und die zahlreichen LREM-Novizen in der Nationalversammlung müssen die Franzosen erst noch davon überzeugen, dass mit ihnen tatsächlich ein neues Kapitel beginnt. Ebenso gilt es, die Bürger von Macrons Reformprogramm zu überzeugen, von denen die Hälfte den Plänen des Präsidenten bestenfalls abwartend, meistens aber misstrauisch gegenübersteht. Mit anderen Worten: Die beinahe erdrückende Mehrheit in der Nationalversammlung steht nicht für eine ebensolche Mehrheit in der Bevölkerung.

Es war vor allem der Wunsch der Wähler, dem Präsidenten ein stabiles Regierungsmandat zu geben, der die LREM so weit nach oben getragen hat. Seit in Frankreich der Präsidentenwahl unmittelbar die Parlamentswahlen folgen, gelten Letztere im Wesentlichen zur Bestätigung des zuvor gekürten Staatsoberhaupts. Gleichzeitig erklärt der Wahlmarathon (vier Urnengänge in sieben Wochen) die seit 1997 ständig steigende Enthaltungsquote. Mehr als jeder zweite Franzose ging am Sonntag nicht wählen – auch, weil viele das Rennen für entschieden hielten. „Die Leute wissen, dass die Sache bereits ausgemacht ist“, meinte ein Wähler bei der Stimmabgabe. Dessen ungeachtet hoffen viele Bürger tatsächlich darauf, dass Macron neue Verhältnisse schafft. Noch im Juni wird die Frischzellenkur für die erlahmte Demokratie weitergehen: Die Regierung will den Mandatsträgern per Gesetz Moral verordnen. Dank mehrerer Maßnahmen – darunter das Verbot für Parlamentarier, Familienmitglieder als Mitarbeiter zu beschäftigen – soll der politischen Elite jene Redlichkeit eingeimpft werden, die ihr fehlte.

Aber so unumstritten dieses Gesetz, das den Bürgern ihr verlorenes Vertrauen in die Politikerklasse zurückgeben soll, auch sein mag, so wenig gilt das für Macrons wirtschaftliche Reformagenda. Insbesondere an dem heißen Eisen einer Arbeitsmarktreform, welche bis September im Schnellverfahren durchgezogen werden soll, wird zu sehen sein, wie weit der Rückenwind den jungen Präsidenten trägt. Widerstände in der Nationalversammlung hat er nach diesem Wahlergebnis nicht zu befürchten.