Berlin. Rörig nennt neuen Kommissionsbericht „tief erschütternd“

Ein missbrauchtes Kind wird oft auf doppelte Weise zum Opfer: Weil es Gewalt erlebt und weil es keine Hilfe bekommt. Erst Jahre später können viele Betroffenen ihre Geschichte erzählen – doch wer hört dann noch zu? Johannes-Wilhelm Rörig, der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, beklagt einen neuerdings wieder weitverbreiteten Trend zum Wegsehen: Nach den ersten großen Missbrauchsskandalen Anfang des Jahrzehnts sei die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit groß gewesen. Doch das habe sich geändert: „Politik und Gesellschaft sind in den letzten Jahren abgestumpft, viele verdrängen die Missbrauchsopfer“, sagte Rörig dieser Zeitung.

An diesem Mittwoch veröffentlicht die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs ihren ersten Zwischenbericht. Rörig hat ihn gelesen und ist schockiert: „Der Bericht ist tief erschütternd.“ Er gebe einen intensiven Einblick in das Leid missbrauchter Kinder und das Versagen ihres Umfelds. „Manche Betroffene haben zum ersten Mal über ihre Erlebnisse gesprochen“, so Rörig. „Ich bin sehr froh, dass wir der Regierung diese unabhängige Kommission gegen den Widerstand in der großen Koalition überhaupt abgerungen haben.“ Die Kommission hatte im Mai 2016 ihre Arbeit aufgenommen. Sie untersucht sämtliche Formen von sexuellem Kindesmissbrauch in der Bundesrepublik und in der DDR. Bislang haben sich rund 1000 Betroffene und andere Zeitzeugen für eine vertrauliche Anhörung gemeldet.

Jedes Jahr gibt es mehr als 12.000 Ermittlungsverfahren

Überraschend viele berichteten über Fälle von organisiertem Missbrauch im Rahmen von Familien und von Fällen ritueller sexueller Gewalt. Hier schilderten die Opfer Erlebnisse, bei denen die Täter aus pseudoreligiösen oder ideologischen Gründen Kinder missbraucht hatten.

Rörig beklagt seit Langem, dass die Zahl der Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch bisher nicht zurückgegangen ist. „Wir haben eine ungebrochen hohe Fallzahl. Jedes Jahr gibt es mehr als 12.000 Ermittlungsverfahren wegen sexuellen Kindesmissbrauchs. Das Dunkelfeld ist noch sehr viel größer“, so Rörig.

Die Bekämpfung des Missbrauchs sei in der Zeit der großen Koalition auf politischer Sparflamme gelaufen. Auch bei der Aufarbeitung sei vieles schlecht gelaufen: So habe Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) es versäumt, die Reform des Opferentschädigungsgesetzes auf den Weg zu bringen. „Das ist eine Riesenenttäuschung für die Betroffenen“, so Rörig. Das Verfahren, das Betroffenen derzeit zugemutet werde, sei dem Rechtsstaat nicht würdig.