Paris.

Angela Merkel reagierte sofort. Kurz nachdem die Hochrechnungen über den Ausgang der ersten Runde der französischen Parlamentswahlen vorlagen, gratulierte die Bundeskanzlerin Präsident Emmanuel Macron zum „großen Erfolg seiner Partei“ und bezeichnete das Ergebnis als ein „starkes Votum für Reformen“. Und um ein starkes Votum der Franzosen handelt es sich in der Tat. Noch vor dem Stichwahlgang am kommenden Sonntag steht fest, dass die von Macron gegründete Partei La République en marche (LREM) eine absolute Mehrheit in der neuen Nationalversammlung erobern wird.

Keine Frage: Merkels schnelle Reaktion ist mehr als eine Sympathiebekundung für den jungen Hausherrn im Élysée-Palast. In ihm schwingen sowohl Erleichterung als auch große Erwartungen mit. Erleichterung, weil die Nachbarn am Rhein alle Pessimisten widerlegt haben, die der erst vor 16 Monaten aus dem Boden gestampften Start-up-Formation LREM den Durchmarsch zur stärksten Fraktion im Parlament nicht zutrauen mochten. Umso größer sind nun die Berliner Erwartungen, dass ein mit einer stattlichen Regierungsmehrheit ausgerüsteter und proeuropäischer Präsident Macron seine Reformversprechen einhält und Frankreich wieder zu einem wirtschaftlich starken sowie berechenbaren EU-Partner macht.

Auf dem Papier jedenfalls wird Macron niemand daran hindern können, energisch durchzuregieren. Die „Macron-Mania“ oder „Macron-Welle“, wie französische Medien den Erdrutschsieg von LREM in der ersten Wahlrunde nennen, hat die politische Opposition völlig überrollt. So dürften die Sozialisten am kommenden Sonntag bis zu 250 ihrer 285 Abgeordneten-Mandate an die LREM-Konkurrenz verlieren und die konservativen Republikaner rund die Hälfte ihrer derzeit 199 Sitze. Keine der beiden schwer geschwächten Traditionsparteien wird dem Präsidenten da noch parlamentarische Steine in den Weg legen können.

Frankreich soll wirtschaftlich wieder auf die Beine kommen

„Die Franzosen haben für die LREM-Kandidaten gestimmt, weil sie Macron eine Chance geben wollten, sich zu beweisen“, erklärt der Meinungsforscher Brice Teinturier. Die Zahl erfahrener Berufspolitiker jedenfalls, die von den LREM-Newcomern ausgestochen wurden, übersteigt die Einhundert bei Weitem. Selbst in ihren Wahlkreisen fest verankerte Schwergewichte wie Benoît Hamon, der sozialistische Präsidentschaftskandidat, die frühere Grünen-Vorsitzende Cecile Duflot, der sozialistische Parteichef Jean-Christoph Cambadélis oder Hollandes ehemalige Kultusministerin Aurélie Filippetti verloren ihren Parlamentssitz bereits in der ersten Runde.

Allerdings hat die Chronik des angekündigten LREM-Erfolgs, die mehr als 400 von Macrons Repräsentanten in die Nationalversammlung spülen könnte, einen Makel. Nur jeder zweite Wähler ist an die Urnen getreten. Zwar sind in erster Linie die Anhänger der Sozialisten, der Republikaner, des rechts­extremen Front National und der linkspopulistischen France insoumise daheimgeblieben, trotzdem beleuchtet die niedrige Wahlbeteiligung die Zerrissenheit des Landes. In Frankreich, wo das Mehrheitswahlrecht die stärkste Partei enorm begünstigt, steht eine schwache Opposition in der Nationalversammlung keineswegs für geringe Widerstandskräfte in der Bevölkerung.

Macron hat seinen Bürgern und den europäischen Partnern versprochen, Frankreich wirtschaftlich wieder auf die Beine zu bringen. Und zwar rasch. Gleich nach einem ersten und weitestgehend unumstrittenen Gesetz zur Moralisierung der Politik, welches der Nationalversammlung vor Ende Juni vorgelegt wird, will er den Stier der Reformverweigerer bei den Hörnern packen. Bis September soll auch das brandheiße Eisen einer erneuten Arbeitsmarktreform angepackt und im parlamentarischen Schnellverfahren durchgezogen werden. Macron hat angekündigt, die Gesetze unternehmerfreundlicher zu gestalten, um mehr Jobs zu schaffen. Im Klartext bedeutet das, Entlassungen und befristete Einstellungen zu erleichtern, was in der Bevölkerung auf Widerstand treffen könnte. Auch sein Plan zur Senkung der Unternehmenssteuern ist umstritten. Zustimmung erhält er für das Vorhaben, über fünf Jahre 50 Milliarden Euro in die Ankurbelung der Wirtschaft zu investieren – von Qualifizierungsmaßnahmen bis hin zum Ausbau der Erneuerbaren Energien reicht das Spektrum.

Macrons Kalkül: Der Versuch, ihn auszubremsen, würde als Missachtung des Wählerwillens empfunden und eine Mobilisierung gegen die Arbeitsmarktreform – die zudem noch in die Sommerpause fallen müsste – erheblich erschweren. Eine Mehrheit der Gewerkschaften bemüht sich daher sichtlich, bei den bereits angelaufenen Sondierungsgesprächen mit der Regierung ein gesichtswahrendes Minimum an Kompromissen herauszuschlagen.

Offenbar ist Macron durchaus bereit, ein hohes Risiko einzugehen. An einer wilden Protestbewegung, wie sie Frankreich erst im vergangen Jahr erlebt hat (auch da ging es um eine Arbeitsrechtsreform, die sich jedoch im Vergleich mit Macrons Vorhaben wie ein lauwarmes Lüftchen ausnimmt), droht seine gerade erst gewonnene Popularität gleich wieder zu zerschellen. Kommt die Reform hingegen durch, würde er wohl endgültig den Ruf eines Wunderknaben erringen, der das Unmögliche möglich macht. Bereits angesichts der 32 Prozent Stimmanteile, die LREM am Sonntag errang, wollte ein TV-Kommentator wissen, ob Macron etwa über Wasser gehen oder Blinden das Augenlicht zurückgeben kann.