Kabul/Berlin.

Es ist ein Morgen des Grauens. Kurz nach 8.30 Uhr Ortszeit steigt eine riesige Rauchsäule in den blauen Himmel über der afghanischen Hauptstadt Kabul. Eine gewaltige Bombenexplosion hat das hoch gesicherte Diplomatenviertel erschüttert, die deutsche Botschaft befindet sich nur wenige Hundert Meter entfernt. Blutüberströmte Menschen schreien in Panik. Ein verletzter Mann schleppt sich auf seinen Ellbogen mühsam vorwärts und zieht die Beine, die er nicht mehr bewegen kann, hinter sich her. Sollte er überleben, wird er wohl nie wieder gehen können.

Gebäude sind zusammengefallen wie Kartenhäuser, über die Straßen verteilt liegen unzählige Trümmerteile aus Blech und Beton. Vereinzelt haben sich Krater mehrere Meter tief im Boden gebildet. Kabul sieht an diesem Morgen aus wie nach einem verheerenden Luftangriff. Die Behörden sprechen von mindestens 90 Toten und rund 460 Verletzten. Es ist einer der schwersten Anschläge seit dem Sturz der Taliban 2001.

Mehrere Mitarbeiter der deutschen Botschaft verletzt

Die deutsche Botschaft, ein Gebäude aus den 50er-Jahren, wird durch die Druckwelle der Explosion schwer beschädigt. Ein afghanischer Wachmann wird getötet, mehrere Angestellte werden verletzt. Die Außenmauer aus Natursteinen, die seit Jahren auf der Innenseite regelmäßig verstärkt worden war, zerfällt teilweise zu Staub. Die eingebauten Spezialplatten vor den Fenstern, mit denen Angestellte für den Fall eines Anschlags wie am Mittwoch geschützt werden sollten, baumeln wie nach einem schweren Erdbeben an den Resten ihrer Befestigungen. Alle Mitarbeiter seien in Sicherheit gebracht worden, teilt das deutsche Außenministerium später mit. Auch die Botschaften Frankreichs, Chinas, der Türkei und anderer Länder sowie der afghanische Präsidentenpalast werden in Mitleidenschaft gezogen.

Die Explosion findet zur Hauptverkehrszeit statt. Ein paar Hundert Meter entfernt hämmern verzweifelte Afghanen mit bloßen Händen gegen die Eisentore des von einer italienischen Hilfsorganisation betriebenen Notfall-Hospitals. Sie wollen wissen, ob in dem Chaos des Anschlags verloren gegangene Verwandte dort behandelt werden. Die Telefone in Kabul funktionieren nicht mehr – niemand ist erreichbar. Afghanistans kriegsgeplagte Einwohner sind an viele Schrecken gewöhnt. Aber der Anschlag trifft sie bis ins Mark.

Nach Angaben von Kabuls Polizeichef General Hassan Shah Frogh war der gewaltige Sprengsatz in einem Lastwagen versteckt, in dem normalerweise Fäkalien aus Sickergruben abtransportiert werden. Der Selbstmordattentäter am Steuer nutzte den dichten Berufsverkehr, der um diese Zeit die Hochsicherheitszone im Stadtviertel Wazi Akbar Khan in einen einzigen Verkehrsstau verwandelt. Angesichts der am Morgen üblichen Blechlawinen finden nur vereinzelte Straßenkontrollen statt, um das Verkehrschaos nicht zu verschlimmern. In einer Erklärung der Nato heißt es, die afghanischen Sicherheitskräfte hätten dem Fahrzeug den Zugang zur stark bewachten Grünen Zone verwehrt, in der viele Botschaften angesiedelt sind. Deshalb habe er die Bombe wohl davor gezündet.

Bei der Frage, wer hinter dem Attentat steckt, gibt es am Mittwoch noch keine klaren Erkenntnisse. Doch die hohe Zahl der zivilen Opfer weist auf die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Die Verursachung von größtmöglichem zivilen Schaden ist ein Markenzeichen des IS. Die Talibanmilizen, die fast nie die Verantwortung für Anschläge mit vielen zivilen Opfern übernehmen, bestreiten jede Beteiligung an der Attacke. Ihnen ging es in der Vergangenheit vor allem um die Zerstörung von Herrschaftssymbolen des Staates wie Armeestützpunkten.

Der IS war seit Januar für mehrere spektakuläre Anschläge in Kabul verantwortlich. Viele Bewohner der Hauptstadt sind überzeugt, dass die Dschihadisten mit dem Anschlag am Mittwoch Vergeltung für die Luftangriffe der internationalen Anti-IS-Koalition im Irak und in Syrien üben wollten. Das machen sie auch daran fest, dass es der mutmaßliche Selbstmordattentäter bis ins Herz des Stadtteils von Kabul geschafft habe, in dem sich die diplomatischen Vertretungen der Länder befinden, die direkt oder indirekt die Dschihadisten im Nahen Osten bekämpfen.

Mitte April wurde auf Befehl von US-Präsident Donald Trump in der afghanischen Provinz Nangahar nahe der Grenze zum benachbarten Pakistan die bislang größte konventionelle Bombe abgeworfen. Die 9500 Kilogramm schwere Waffe – von Militärs auch „Mutter aller Bomben“ bezeichnet – detonierte in einem Höhlenkomplex, in dem sich der afghanische Ableger des IS verschanzt hatte.

Terrorexperten befürchten, dass die jüngste Attacke in Afghanistan ihre düsteren Prognosen bestätigt. Ihre These: Je mehr die Islamisten in Syrien und im Irak in die Defensive gedrängt werden, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kämpfer Richtung Hindukusch ziehen. Nach Schätzungen der Amerikaner sind rund 20 Terrorgruppen in der Region aktiv. Die afghanische Regierung kontrolliere nur noch zwei Drittel des Landes. Nach jüngsten Angaben fallen in der Hauptstadt und in den umliegenden Provinzen mehr Zivilisten dem Krieg zum Opfer als überall sonst in Afghanistan.

Nur wenige Stunden nach der Explosion verurteilt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den verheerenden Anschlag und kündigt eine Fortsetzung des Anti-Terror-Einsatzes an. „Wir werden den Kampf gegen die Terroristen führen, und wir werden ihn gewinnen“, sagt sie bei der Hauptversammlung des Deutschen Städtetages in Nürnberg. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schreibt in einem Kondolenzbrief an seinen afghanischen Amtskollegen Aschraf Ghani: „Bei unseren Bemühungen gegen den Terror werden wir auch in Zukunft zusammenstehen.“