Berlin.

Ob die Schwester von Martin Schulz etwas ahnte? „Ich mache mir Sorgen um den Menschen Martin“, hat Doris Harst kurz vor der NRW-Landtagswahl erklärt, mit Blick auf den „unglaublichen Stress“ für ihren Bruder, den SPD-Kanzlerkandidaten. Doch Schulz könne auch ein 0:3 noch drehen, das habe er schon als jugendlicher Fußballspieler gezeigt. Nun steht es nach drei Landtagswahlen tatsächlich 0:3 für die SPD, Schulz ist nach dem Debakel in NRW zunächst so tief getroffen, dass sich manche Genossen ernsthaft Sorgen um ihn machen – doch schon nach „kurzer Nacht“ gibt sich der SPD-Chef am Montagmorgen zwar nachdenklich und wohldosiert selbstkritisch, aber vor allem kämpferisch.

„Bis zur Bundestagswahl haben wir eine lange Wegstrecke. Die ist steinig, und die wird hart werden“, sagt Schulz am Vormittag im Willy-Brandt-Haus, als er die Wahlverliererin Hannelore Kraft begrüßt. Aber die SPD sei eine kampferprobte Partei. Schulz hebt die Arme und versichert: „Ich habe eine gewisse Erfahrung darin gesammelt, Rückschläge wegzustecken.“

Links und rechts im Hintergrund stehen Generalsekretärin Katarina Barley und Parteivize Manuela Schwesig und schauen überwiegend freundlich drein – für SPD-Vize Ralf Stegner, der sich beim TV-Auftritt am Sonntagabend hinter Schulz aufgebaut und mit tief heruntergesunkenen Mundwinkeln das depressive Bild der Parteispitze verstärkt hatte, ist diesmal kein Platz in der Nähe des Parteichefs.

Von der Parteispitze erhält Schulz Rückendeckung

Auch sonst bemühen sich alle in der SPD-Spitze, gute Miene zum schlimmen Wahlausgang zu machen. Dass der Bundestagswahlkampf jetzt deutlich schwerer wird, ist jedem klar. In der Parteispitze gibt es aber einmütig Rückendeckung für den Vorsitzenden. Ihn auszutauschen, ist hier für niemanden in eine Option. „ Wir haben einen glaubwürdigen Kanzlerkandidaten, der nach wie vor die Menschen begeistern kann“, sagt Fraktionschef Thomas Oppermann. Schulz kommt zupass, dass die abgewählte NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft alle Verantwortung für die verpatzte Generalprobe auf sich genommen hat. Am Montag versichert sie erneut, sie habe sich für den Landtagswahlkampf eine bundespolitische Einmischung des Parteichefs verbeten.

Dass Schulz jede inhaltliche Profilierung über viele Woche nur Kraft zuliebe hintangestellt hätte, trifft zwar nicht zu. Vorwürfe hört er deshalb aber nicht, eher kursieren in der Partei kritische Anmerkungen über seine Berater. Der Fehler ist offenkundig: „Wir haben uns auf Bundesebene zu sehr zurückgenommen und damit inhaltliche Dynamik verloren“, sagt Parteivize Thorsten Schäfer-Gümbel. Schulz erklärt, er nehme die Kritik an fehlenden Inhalten auf. Die Konsequenz aus dem Debakel ist klar: Schon in den nächsten Tagen will der Parteichef sehr konkrete, inhaltliche Vorstellungen präsentieren, der Bundestagswahlkampf läuft jetzt an.

Am Donnerstag wird der Vorsitzende eine Grundsatzrede zur Bildungspolitik halten. Den Entwurf für ein Bundestagswahlprogramm beschloss die SPD-Spitze entgegen früherer Planungen aber noch nicht. Obwohl das Papier ohnehin nur allgemein gehalten ist, will Schulz noch Spielraum für Korrekturen haben. Zentrale Punkte benennt der Kanzlerkandidat aber bereits: Bildung ist für Schulz jetzt „der entscheidende Punkt“. Deutschlands Kapital seien gut qualifizierte Arbeitnehmer. Die SPD will mehr Investitionen in Schulen, aber zum Beispiel auch in Forschung und Entwicklung. Zusätzliches Geld für die Infrastruktur verspricht Schulz ebenso wie die verstärkte Förderung der Exportchancen von Unternehmen. Für Investitionshilfen will er auch Ausnahmen vom geltenden EU-Wettbewerbsrecht.

Einen großen Schwerpunkt legt der Parteichef zudem auf die Friedenspolitik: Die SPD geht im Wahlkampf auf klaren Gegenkurs zur Unionsforderung, die Ausgaben für die Bundeswehr massiv zu erhöhen. Das in der Nato verabredete Ziel, jedes Mitgliedsland solle zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgeben, wollen die Genossen nicht akzeptieren. Die SPD werde „Alternativen zur Aufrüstungspolitik“ formulieren, Vorstöße zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung machen. Friedensinitiativen seien traditionell sozialdemokratische Politik, sagt Schulz. Zudem steht er für ein klares Bekenntnis zu Europa: Die EU soll gestärkt, die Zusammenarbeit der Euro-Staaten ausgebaut werden.

Der Kanzlerkandidat sieht noch Reserven bei sich

Aber fehlt da nicht etwas? Ausgerechnet die Parole von mehr sozialer Gerechtigkeit benutzt Schulz am Montag nicht mehr – nachdem Wahlanalysen zeigen, dass das Gerechtigkeitsthema allein kaum Wähler lockt. Führende Genossen versichern später, der Kanzlerkandidat werde am Gerechtigkeitskurs festhalten. Parteilinke wie Stegner drängen: „Wir müssen das Gerechtigkeitsthema noch stärker ausbuchstabieren.“ Doch fällt auf, wie Schulz jetzt über Zukunftsthemen spricht, während soziale Fragen in den Hintergrund rücken; auch intern umstrittene Punkte wie Steuern oder Rente bleiben einstweilen ausgeklammert. Im Entwurf für das Wahlprogramm finden sich zwar Hinweise, dass vor allem kleine und mittlere Einkommen entlastet, der Sinkflug des Rentenniveaus gestoppt werden sollen. Auf die entscheidenden Details aber wird noch eine Weile verzichtet.

Das Programm soll von einem Parteitag am 25. Juni in Dortmund beschlossen werden, doch womöglich werde Schulz die Konkretisierungen etwa in der Steuerpolitik auch erst in der heißen Wahlkampfphase präsentieren, heißt es. Schulz will noch Reserven für den entscheidenden Konter haben. „In der nächsten Runde ist jemand wie ich kampferprobt“, versichert er den Genossen. In einem Brief an die Mitglieder schreibt Schulz später: „Ab jetzt heißt es, Angela Merkel oder ich.“