Berlin.

Im Februar dieses Jahres tauchte Rachmat Akilow ab. Sein Name stand mit 10.000 anderen Personen auf einer Liste der schwedischen Polizei. Akilow floh vor den Behörden, die ihn abschieben wollten. Zurück nach Usbekistan, die Heimat des 39 Jahre alten Mannes, wo seine vier Kinder und die Frau leben. 2014 war Akilow allein nach Schweden eingereist, wie so viele Migranten aus Zentralasien – vor allem Usbeken, Kirgisen, Tadschiken. Er beantragte Asyl, das abgelehnt wurde, legte Widerspruch ein, der erfolglos blieb. Akilow schlug sich durch mit Jobs auf Baustellen, fiel weder Nachbarn noch Kollegen auf. Seit ein paar Monaten war er arbeitslos. Und als sein Name auf der Abschiebe-Liste stand, verschwand Akilow vom Radar der Behörden. Er tauchte erst am 7. April 2017 wieder auf – als er mit einem gestohlenen Lastwagen durch eine Einkaufsstraße in Stockholm raste, vier Menschen tötete und viele verletzte.

Stockholm steht für einen von mehreren Terroranschlägen, die für Schlagzeilen sorgten. Eine Woche vorher war der Kirgise Abror Azimow an dem Bombenattentat in der U-Bahn in St. Petersburg beteiligt. In der Silvesternacht erschoss der Usbeke Abdulgadir Mascharipow 39 Menschen in einem Nachtclub in Istanbul. Die Attentäter aus Zentralasien lenken die Aufmerksamkeit auf einen fast vergessenen „Hotspot“ islamischer Radikalisierung, neben Nordafrika und dem arabischen Raum. Was steckt hinter dem Terror aus dem Osten?

Der IS rekrutiert seine Kämpfer auch unter Kriminellen

Wer die Frage beantworten will, muss vordringen in eine Region, die nur selten den Weg in die Aufmerksamkeit Europas findet – dabei sind es Länder, zusammen fast so groß wie die EU, aber mit nicht einmal so vielen Bewohnern wie Deutschland, geprägt von Bergen, Steppen und wenigen Metropolen.

Einst waren die Staaten zwischen dem Kaspischen Meer und China Teil des Sowjetreichs. Die Kulturen Zentralasiens sind Schmelztiegel verschiedener Sprachen, Ethnien und Religionen. Mehrheitlich leben hier Muslime. Viele sehen den Islam eher als Alltagsritual denn als politische Agenda.

Doch auch Fundamentalisten werden hier stärker. Religiöse Gönner aus Saudi-Arabien helfen nach und finanzierten den Bau etlicher Moscheen etwa in Kirgistan. In vielen Staaten regieren Autokraten, die Korruption blüht, gute Arbeit gibt es wenig, die Menschenrechtslage ist fragil bis erschütternd. Amnesty International berichtet von Folter etwa in Usbekistan und Tadschikistan. Ein Mix, der Nährboden bietet für Radikalisierung, sagen Experten.

Seit einigen Jahren gewinnen Extremisten an Einfluss in der Region, vereinzelt kam es seit 2000 zu Anschlägen, etliche mutmaßliche Terroristen wurden verhaftet. Und seit einigen Jahren rekrutiert der „Islamische Staat“ (IS) seine Kämpfer auch hier. Nur schwer lässt sich die Szene durchleuchten, Einblicke geben Sicherheitsexperten, Wissenschaftler aus dem Westen und Forscher, die vor Ort leben. Sie gehen von 3000 IS-Kämpfern aus, die in den vergangenen Jahren von Zentralasien in das Kampfgebiet des IS in Syrien und Irak ausreisten. Somit gehören Länder wie Usbekistan und Kirgistan zu den wichtigen Einzugsgebieten des IS – ebenso wie Nordafrika, der Kaukasus, aber eben auch die EU, aus der 5000 Dschihadisten ausgereist sein sollen. Sie nennen sich „Islamische Bewegung Usbekistan“ (IBU), „Al-Bukhari-Brigade“ oder „Katibat al-Tauhid wal Dschihad“. Nicht alle Zentralasiaten zieht es zum IS – Usbeken etwa kämpfen dort auch für konkurrierende Al-Qaida-Ableger. Ihr Fernziel ist auch: ein „Kalifat“ in ihrer Heimat.

Die Islamisten waren schon zu Sowjetzeiten auf dem Vormarsch. Doch das Ende des Sowjetregimes hinterließ ein ideologisches Vakuum. Wissenschaftler wie Uwe Halbach von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin analysieren eine „Wiedergeburt“ der theologischen Islamlehre, eine „späte Rache“ an der sowjetischen Religionspolitik, die Islamschulen unterdrückt und Glauben auf ein Brauchtum reduziert habe.

Terroristische Organisationen wie IS und al-Qaida rekrutieren sich oft auch aus früheren Kriminellen. Darunter sind nach Ansicht von Experten wie dem US-Forscher Noah Tucker auch Dschihadisten aus Zentralasien. Etliche, die heute bei der IBU oder dem IS kämpfen, waren nach Ende der Sowjetzeit in kriminellen Netzwerken aktiv, handelten mit gestohlenen Waren, Drogen oder Waffen. Auch Kleinkriminelle wechselten in der Vergangenheit zu den Dschihadisten. Das Motiv ist häufig nicht die Religion, sondern Geldverdienen im „Heiligen Krieg“ – durch Sold und Kriegsbeute. Und endet der Dschihad für sie, wechseln manche zurück in kriminelle Organisationen.

Viele leben in Russland – und in Westeuropa

Häufig waren die meist jungen Männer aus den Staaten Zentralasiens nicht erst in Syrien mit Gewalt konfrontiert, sondern schon in ihrer Heimat. Islamisten mischten im Krieg in Tadschikistan mit. In manchen Gegenden flammten mehrfach Konflikte unter ethnischen Gruppen auf, auch Willkür vonseiten des Staates gehört zum Alltag in manchen Gegenden von Tadschikistan oder Usbekistan. Über die Jahre haben sich Gewaltkulturen etabliert.

Somit gelten IS-Kämpfer aus Usbekistan oder Tadschikistan als erfahren an Waffen und kriegserprobt. Viele kämpften vor dem Bürgerkrieg in Syrien schon in Afghanistan oder Pakistan. Denn nach Afghanistan vertrieb die usbekische Regierung mit der Härte eines Polizeistaates etwa Terroristen der IBU. Einige Experten wie Tucker kritisierten, dass drakonische Haftstrafen gegen mutmaßliche Islamisten eher zum Ziel haben, die Opposition zu unterdrücken.

Das Problem einzelner radikalisierter Islamisten lässt sich nur zu einem Teil in Zentralasien lösen. Denn sehr viele junge Menschen aus diesen Ländern leben in Russland – und Europa. Wer durch die Straßen Moskaus läuft, sieht junge Tadschiken, Kirgisen oder Usbeken auf den Baustellen. Laut Experten arbeiten zwischen drei und vier Millionen Zentralasiaten in Russland. Manche sind vor Gewalt geflohen. Die allermeisten aber sind auf der Suche nach Jobs.

Usbeken und Tadschiken sind in Russland immer wieder Ziel von Angriffen russischer Neonazis. Ihre Lobby in Russland ist marginal. Sie sind vor allem eines: billige Arbeiter. Manche versuchen ihr Glück dann in Europa – vor allem in den nahen skandinavischen Ländern.

In Deutschland ist die Zahl der Asylsuchenden aus Zentralasien gering. Sie kommen laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht aus den zehn wichtigsten Herkunftsstaaten. Wer einmal hier ist, wird in der Regel abgeschoben – oder taucht ab. So wie es im Fall von Rachmat Akilow in Schweden geschah. Und bei Einzelnen wächst aus der Frustration und dem Scheitern die Radikalität.