Berlin.

Karl-Heinz Paqué hat sich vorbereitet. Der Volkswirt, der an der Uni Magdeburg lehrt, weiß, wie man komplexe Sachverhalte vermittelt. Als FDP-Politiker weiß er auch, wie man politische Botschaften setzt. Paqué war einmal Finanzminister in Sachsen-Anhalt. Er hat zur Pressekonferenz am Dienstag eine Papptafel mitgebracht, die er hoch hält. Darauf zu sehen: bunte Balken. Dargestellt ist, welchen Anteil ihres Einkommens deutsche Haushalte für Steuern und Abgaben aufwenden.

Man sieht: Arbeitnehmer mit geringem oder durchschnittlichem Einkommen leiden erheblich. Schon bei einem Einkommen von nur 10.000 Euro pro Jahr – das ist die niedrigste Steuerklasse – gehen 35 Prozent für Sozialversicherungsbeiträge und indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer drauf. Die Botschaft des liberalen Volkswirts Paqué: Man müsse über Entlastungen nachdenken. Die Mittelschicht sei ganz besonders betroffen. Das Sozialversicherungssystem habe „ein gigantisches Problem“.

Für einen FDP-Politiker ist das nicht überraschend, aber die Zahlen, mit denen er argumentiert, sind kein Wahlkampfgag. Sie stammen aus einer Studie, die das renommierte Wirtschaftsforschungsinstitut RWI erstellt hat. Auftraggeber war zwar die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung, aber Instituts-Chef Christoph Schmidt betont, dass es nicht um politische Empfehlungen oder Programme gegangen sei, sondern um eine Bestandsaufnahme der Belastung durch Steuern und Abgaben. Man habe beschreiben wollen, was Sache ist, und dabei erstmals auch indirekte Abgaben wie die Lkw-Maut eingerechnet.

Schmidt, der als neutraler Wissenschaftler auch die Bundesregierung in Wirtschaftsfragen berät, gesteht ein: „Die Belastung der Bürger ist deutlich höher, als uns vorher bewusst war.“ Dass schon Bürger mit durchschnittlichem Verdienst mehr als 45 Prozent ihres Einkommens an den Staat und die Sozialversicherungen abführen müssten, das habe auch ihn erstaunt. Am höchsten, nämlich mit 48 Prozent, werden Arbeitnehmerhaushalte mit Einkommen zwischen 40.000 und 80.000 Euro belastet. Nach Berechnungen der RWI-Forscher ist die finanzielle Belastung der Bürger 52,6 Milliarden Euro höher als angenommen. Wenn nichts geschehe, werde sie auch weiter steigen.

Es soll aber etwas passieren, denn die Studie ist nicht zufällig von einer politischen Stiftung in Auftrag gegeben worden. Im heraufziehenden Bundestagswahlkampf wird es mehr als bisher schon um die Be- und Entlastungen der Bürger gehen. Die Union hat bereits Steuersenkungen von mindestens 15 Milliarden Euro angekündigt. Die SPD überlegt noch, ob sie Steuern senken oder die Sozialbeiträge für Geringverdiener subventionieren will.

Wie relevant das Thema ist, zeigt eine andere Studie, die auch gestern veröffentlicht wurde. Darin hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ebenfalls die Belastung durch Steuern und Abgaben ausgerechnet – nicht nur in Deutschland, sondern in allen ihren 35 Mitgliedstaaten. Das ernüchternde Ergebnis: In den Industrienationen rund um den Globus zahlen nur noch die Bürger in Belgien mehr als in Deutschland. Die Deutschen sind also Vize-Weltmeister bei Steuern und Abgaben.

Laut OECD zahlt hier ein lediger, kinderloser Durchschnittsverdiener 49,4 Prozent seines Einkommens an den Staat. Im Durchschnitt der OECD-Länder sind es 36 Prozent. Ist der Alleinverdiener verheiratet und hat zwei Kinder, sieht es auf dem Gehaltszettel durch Zuschüsse wie Kindergeld und Steuervorteile etwas besser aus: Hier haben Steuern und Abgaben das Arbeitseinkommen vergangenes Jahr mit 34 Prozent belastet. Der Durchschnitt aller Industriestaaten ist 26,6 Prozent.

Sowohl die Forscher vom RWI als auch die Experten der OECD führen diese Unterschiede auf die vergleichsweise hohen Sozialabgaben zurück, die von Arbeitnehmern und Arbeitgebern in Deutschland zu tragen sind. In Haushalten mit geringem oder durchschnittlichem Einkommen ist der Anteil dieser Abgaben oft sogar größer als die zu zahlende Einkommensteuer.

Bei Gut- und Großverdienern ist es dagegen umgekehrt. Hier wird der Anteil der Beiträge, die sie für die Renten-, Kranken- oder die Arbeitslosenversicherung zahlen, mit zunehmendem Einkommen eher kleiner. Der Grund: Die Beiträge steigen ab einem bestimmten Einkommen nicht mehr. In der Krankenversicherung liegt diese Grenze zum Beispiel bei 52.200 Euro Jahreseinkommen. Wer mehr verdient, zahlt nicht mehr.

Dieser Umstand beschäftigt vor allem Politiker der SPD. „Wer untere und mittlere Einkommen wirklich entlasten will, muss auch die Sozialabgaben in den Blick nehmen“, sagt zum Beispiel der Vizechef der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider. Mehr als die Hälfte aller Steuerpflichtigen könnten durch Steuersenkungen gar nicht entlastet werden, weil sie wegen ihres geringen Verdiensts keine Einkommensteuern zahlten, argumentiert der Finanzpolitiker. „Deshalb diskutieren wir in der SPD für diese Einkommensgruppen auch über eine Entlastung bei den Sozialabgaben, um mehr netto vom brutto durchzusetzen.“ Konkret würde das bedeuten, dass Geringverdiener eine Art Zuschuss zum Rentenbeitrag bekommen. Finanziert werden könnte das aus einer höheren Einkommensteuer von Gutverdienern. Aber noch ist die SPD bei ihren Steuerplänen zu keinem Ergebnis gekommen. Bisher konnte sich das Zuschussmodell nicht durchsetzen.

CDU und CSU haben demgegenüber noch nicht zu erkennen gegeben, dass sie sich um die Höhe der Sozialbeiträge kümmern wollen. Die Entlastungsversprechen, die in der Union diskutiert werden, beziehen sich fast ausschließlich auf die Einkommensteuer. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) sieht hier einen Spielraum von 15 Milliarden Euro und hat durchblicken lassen, dass der Spitzensteuersatz später als jetzt greifen könne und dass er den Solidarzuschlag abschaffen würde.

Man dürfe nicht nur auf den Verlauf des Steuertarifs schauen, mahnte gestern RWI-Chef Schmidt. Der Zustand der Sozialversicherungen sei eher noch wichtiger, wenn es um die Entlastung der Bürger gehe. Funktioniere der Arbeitsmarkt und sei das Gesundheitssystem effizient organisiert, dämpfe das die Beiträge automatisch.

So war es gestern allein die Arbeitgebervereinigung BDA, die vor einem weiteren Anstieg der Sozialbeiträge warnte. Sie würden Beschäftigung und Wachstum „stark gefährden“, sagte ihr Präsident Ingo Kramer. „Mutige Strukturreformen“ müssten oberste Priorität in allen Sozialversicherungszweigen haben. Aber auch bei der Steuer sieht er Handlungsbedarf. So seien zu viele Beschäftigte, die nur leicht oberhalb des Durchschnitts verdienen, vom Spitzensteuersatz betroffen.