Brüssel.

Soviel Verunsicherung war nie. Mehr als 150 Offiziere hat die Türkei im Zuge der Säuberung nach dem Militärputsch des vergangenen Juli aus den Nato-Stäben abgezogen. Curtis Scaparotti, Oberbefehlshaber des Bündnisses, beklagt „Qualitätsschwund bei meinem Personal“. International erfahrene, westlich orientierte Mitarbeiter mit Englisch-kenntnissen werden durch Nachwuchs aus dem anatolischen Hinterland ersetzt. „Und das Schlimmste ist der Damokles-Effekt“, sagt ein Nato-Vertreter: „Die Leute gehen abends ins Bett und wissen nicht, ob sie am Morgen eine E-Mail-Order kriegen, dass sie zurück müssen nach Ankara!“

Die Nordatlantische Allianz ist beunruhigt über den abdriftenden Verbündeten an der Ostflanke, sieht aber kaum Möglichkeiten gegenzusteuern. Diplomaten und Experten berichten von einer Mischung aus Ratlosigkeit, Nervosität und Rest-Hoffnung, der Spuk möge nach dem Verfassungsreferendum am Sonntag vorübergehen und einer Normalisierung Platz machen.

Die Großzügigkeit der Nato hat Tradition

In den Sitzungen der Nato-Gremien steht die Entwicklung in der Türkei nicht auf der Tagesordnung. „Wir haben keine Tradition, mit internen Angelegenheiten umzugehen“, sagt ein Informant aus der Brüsseler Zentrale. „Wir sind auf die Außenwelt ausgerichtet, nicht nach innen.“ Doch auf den Korridoren und in bilateralen Kontakten ist der autoritäre Kurs des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan samt Folgen für das Bündnis ein Thema. „Die Kollegen sind besorgt über die Tonalität dessen, was da aus Ankara kommt“, sagt ein Diplomat. Und Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigt sich beunruhigt über die rhetorischen Scharmützel, die sich Erdogan mit Deutschland oder den Niederlanden liefert.

In der westlichen Allianz ist die Türkei alles andere als ein Mitläufer. Mit 380.000 Militärangehörigen stellt sie nach den USA die zweitgrößten Streitkräfte, mit großem Abstand zu den drittplatzierten Franzosen (209.000). Den Nato-Richtwert für Verteidigungsausgaben (zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts - BIP) schafft sie nicht ganz, gehört aber mit 1,69 Prozent zu den ausgabenwilligeren Mitgliedstaaten. An zahlreichen Nato-Missionen – Afghanistan, Kosovo, Ägäis – sind die Türken beteiligt, ebenso an der Ausbildung irakischer Offiziere und an der Finanzhilfe für den ukrainischen Verteidigungsapparat. Die wesentliche Bedeutung der Türkei liegt indes in ihrer geostrategischen Position. Sie ist der Allianz-Türsteher am Übergang zum Nahen Osten, der brisantesten Kriegs- und Konflikt-Region weltweit. Sie ist Mitspieler – bis vor Kurzem offiziell auch militärisch – im Syrien-Krieg, beteiligt sich am Kampf gegen das Terror-Kalifat „Islamischer Staat“ und stellt Stützpunkte wie die Luftwaffenbasen Incirlik und Diyarbakir oder das Nato-Hauptquartier in Izmir zur Verfügung.

Doch in Erdogans Militär – dem einzigen muslimisch geprägten Verband in der Nato – gärt es schon länger. „Der Umbruch – Entlassungen, Versetzungen in den Ruhestand, schnelle Beförderung von Jung-Offizieren – hat vor dem Coup eingesetzt“, sagt Samuel Vesterbye, Türkei-Spezialist der Denkfabrik European Neighbourhood Council (ENC). „Nach dem Putsch wurde das Militär weiter umgekrempelt und geschwächt. Die Auswirkungen beeinträchtigen allerdings stärker die türkische Fähigkeit, sich selbst zu verteidigen, als die der Nato.“

Als Nato-Verbündeter verzichtet die Erdogan-Türkei auf die Provokationen, die sie sich als EU-Kandidat leistet. Zwar eskalierte im März der Knatsch mit den Niederlanden derart, dass Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg beide Seiten zur verbalen Abrüstung aufforderte. Doch die Wutattacken aus Ankara richten sich nicht gegen die Allianz: „Die Nato als Organisation wird beim Empörungspotenzial von Herrn Erdogan ausgespart“, sagt ein Diplomat. In den Monaten nach dem Umsturzversuch haben die Türken eher Flexibilität und Rücksicht auf Bündnisinteressen demonstriert. Nach langer Weigerung ließen sie die Einrichtung einer israelischen Mission bei der Nato zu, genehmigten die engere Kooperation mit der EU und ermöglichten eine Verstärkung der Marine-Präsenz im Schwarzen Meer.

„Ihnen ist wohl klar, dass man nicht an allen Fronten gleichzeitig kämpfen kann“, sagt ein Nato-Vertreter. „Deswegen bemühen sie sich, als gute Verbündete zu gelten.“ Diplomaten in der Brüsseler Nato-Zentrale berichten von normalem Auftreten der türkischen Kollegen. „Auf der Arbeitsebene – wenn es um den Irak, Afghanistan oder maritime Zusammenarbeit geht – sind die sprachfähig. Sie holen nur öfter als früher Weisung von der Regierung zu Hause ein.“

„Militärisch hat die Türkei keine wirkliche Alternative“, erläutert ENC-Experte Vesterbye. So biete die von China und Russland aufgezogene Schanghai-Organisation (SOZ) keinerlei gleichwertiges Gegenstück zur Garantie der kollektiven Verteidigung, wie sie der Nato-Vertrag in seinem Artikel V festlegt. Vesterbye: „Man kann sich kaum ein realistisches militärisches Szenario vorstellen, in dem die Türkei sich entscheidet, aus der Nato auszutreten.“

Wie viel Missachtung von Demokratie und Rechtsstaat kann sich die selbst ernannte „Wertegemeinschaft“ Nato bei einem ihrer Mitglieder leisten? Dem Bekenntnis fehlt es an Durchsetzungsinstrumenten. Verstoßung kommt nicht in Frage, da gilt die Maxime, die Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen vertritt: Bei allen Problemen habe man die Türken lieber drin als draußen. Auch Stoltenberg hat mit Blick auf Erdogans Verfassungsreferendum die Latte niedrig gehängt: Solange es bei der Abstimmung korrekt zugehe, könne jeder Staat selber entscheiden, ob er seinen Präsidenten mit einer starken Stellung ausstatte.

Die Großzügigkeit hat Tradition. „Die Nato hat es immer verstanden, den Betrieb aufrechtzuerhalten, auch wenn es in den Mitgliedstaaten drunter und drüber ging“, so ein Bündnis-Offizieller. „Man hat es gern anderen Institutionen wie der EU oder dem Europarat überlassen, sich um Menschenrechte und Demokratie zu kümmern.“ Diese Dickfelligkeit sei heute nicht mehr tragbar. „Seit 1989 ist die Berufung auf gemeinsame Werte Teil unserer DNA geworden. Wir können nicht zulassen, dass das zur Phrase wird. Unsere internationale Legitimität und Handlungsfähigkeit basieren darauf, dass wir tatsächlich eine Wertegemeinschaft sind.“