St. Petersburg/Berlin.

Rauch, Polizeisirenen, Panik. In der U-Bahnstation Technologisches Institut mitten in St. Petersburg spielen sich am Montagnachmittag chaotische Szenen ab. Frauen und Männer schreien wild durcheinander. Mehrere Menschen liegen bewegungslos am Bahnsteig. Sind sie verletzt? Sind sie tot? Die Mitreisenden scheinen das zunächst auch nicht zu wissen, sie beugen sich über die Körper. Eine Rauchwolke quillt durch den U-Bahnschacht. In die Tür eines dunkelblauen Metrowaggons ist ein Loch gesprengt, stark verbogene Metallteile stehen kreuz und quer.

Die Nachrichten überschlagen sich. Erst heißt es, es habe Explosionen in zwei Waggons an zwei Metrostationen gegeben. Am späten Nachmittag erklärt ein Mitarbeiter des Notfalldienstes, es handele sich nur um eine Explosion zwischen den U-Bahnhöfen Sennaja Ploschtschad (Heuplatz) und Technologisches Institut. Die Detonation habe um 13.40 Uhr stattgefunden (14.40 Uhr Ortszeit), melden die Behörden. Laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Interfax wurde ein Sprengsatz gefüllt mit Schrapnellen gezündet, der sich in einem Aktenkoffer befunden habe. Einen weiteren Sprengsatz konnten die Sicherheitsbehörden nach eigenen Angaben in der Metrostation Ploschtschad Wosstanija (Platz des Aufstandes) entschärfen. Sie liegt direkt unter dem größten Bahnhof der Stadt, dem Moskauer Bahnhof. Das russische Gesundheitsministerium spricht von mindestens elf Toten und 47 Verletzten.

„Erst ging das Licht aus, dann gab es eine laute Explosion“

Die Behörden fahnden nach zwei Verdächtigen. Einer von ihnen soll den Aktenkoffer mit der Bombe unter einem Sitz deponiert haben. Russische Medien veröffentlichten das Foto eines bärtigen Mannes mit schwarzem Hut, das angeblich einen der Gesuchten zeigt.

Anastasia, eine 21 Jahre alte Studentin am Technologischen Institut, war in dem Unglückszug. Sie erinnert sich: „Das Licht ging aus, erst in den Waggons vor uns, dann in allen anderen Waggons. Es gab eine laute Explosion. Die Metro hielt ruckartig an. Ein Bahnmitarbeiter rief, dass wir den Zug jetzt schnell wegen eines technischen Defekts verlassen müssten.“ Sie sei schockiert gewesen, habe aber versucht, ruhig zu bleiben, so Anastasia. „Ich habe eine junge Frau gesehen, ihr Gesicht war schwarz, sie hat geweint“, fügt sie hinzu. „Ich habe erst einmal meine Freunde und meine Familienangehörigen angerufen, um ihnen mitzuteilen, dass bei mir alles okay ist.“

Anastasia hat Glück. Viele Menschen tippen in ihre Handys, versuchen, ihre Lieben zu erreichen. Doch nur wenigen gelingt das. Internet und Telefonnetz funktionieren schlecht oder gar nicht.

An der Hauptstraße, die an der U-Bahnstation Technologisches Institut vorbeiführt, stehen ein Rettungshubschrauber sowie mehrere Ambulanz- und Feuerwehrfahrzeuge. Ein junger Mann mit grau-weißem Sweatshirt, das oben einen riesigen Blutfleck aufweist, hat sich mit dem Rücken an einen Pfeiler gelehnt. Sanitäter schieben im Eilschritt eine Trage mit einem Verletzten zum Bus.

Auch Präsident Wladimir Putin ist an diesem Montag in St. Petersburg. Zum Zeitpunkt der Explosion hält er sich aber im Vorort Strelna auf, teilt sein Sprecher Dmitri Peskow mit. „Wir ziehen alle Möglichkeiten in Betracht – ob es eine kriminelle Tat war oder ob sie einen terroristischen Charakter hat“, sagt Putin nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax. Alle Anzeichen deuteten auf einen Terroranschlag hin, betont Viktor Oserow, Abgeordneter im russischen Föderationsrat. Am Abend bestätigt auch das staatliche Ermittlungskomitee, es gehe von einem Terroranschlag aus.

Ein Einwohner von St. Petersburg erzählt der Wirtschaftsagentur RBK, sein Kollege, der offenbar zu den Passagieren des Unglückszugs gehörte, habe ihm eine SMS geschickt: „Zwischen den Stationen gab es eine Explosion. Ein Bursche hatte eine Aktentasche stehen lassen, die Tür geöffnet und ist in den nächsten Waggon gewechselt.“ Eine andere Augenzeugin sagt RBK, sie habe zum Zeitpunkt der Explosion auf einer Rolltreppe zum Bahnsteig der Station Sennaja Ploschtschad gestanden. „Plötzlich hörte ich einen dumpfen Knall, eine Druckwelle traf mich, blies mir die Haare zurück, alle um mich herum haben sich umgesehen.“

Nach Ansicht von Experten ist es schwierig, den mutmaßlichen Täterkreis zu ermitteln, wenn kein Selbstmordattentäter beteiligt sei. Aber es gibt zahlreiche Überwachungskameras auf den Bahnsteigen sowie in den Waggons. Wie Präsident Putin hält sich ein Großteil der russischen Politiker zunächst mit Kommentaren zurück. Franz Klinzewitsch, stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungs- und Sicherheitsausschusses im russischen Föderationsrat, erklärt aber: „Wir haben immer gesagt, die Terroristen betrachten Russland als ihren Feind Nummer eins“, zitiert Ria Nowosti den Politiker.

„Bisher sind die Ermittlungen erst in den Anfängen, deshalb kann man über die möglichen Täter nur Vermutungen anstellen“, sagt der Moskauer Politologe Aschdar Kurtow dieser Redaktion. Aber er halte es für wenig wahrscheinlich, dass eine Abrechnung zwischen Gangstern hinter der Explosion stecke. Auch extreme Nationalisten oder der ukrainische Geheimdienst kämen wohl nicht in Betracht. „Die Handschrift – ein Bombenanschlag in der U-Bahn – spricht für radikale Islamisten. Aber es ist sehr schwer zu sagen, zu welcher Gruppe sie gehören.“ Es sei nicht auszuschließen, dass es sich bei den mutmaßlichen Tätern um nordkaukasische Anhänger der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) handele, so Kurtow. Diese hätten entweder direkt im Auftrag des IS zugeschlagen. Oder sie seien von der Front in Syrien oder im Irak nach Russland zurückgekehrt. So hatten Unbekannte Mitte März einen Posten der tschetschenischen Nationalgarde angegriffen. Dabei kamen nach offiziellen Angaben sechs Nationalgardisten und sechs Angreifer ums Leben. Später bekannte sich der IS zu dem Überfall.

Im Zuge der Luftangriffe der US-geführten Anti-IS-Koalition sowie der syrischen und russischen Militärjets haben die Dschihadisten beträchtliche Teile des im Juni 2014 ausgerufenen Kalifats in Syrien und im Irak verloren. Nun versuchen die ausländischen Kämpfer in den Ländern, die die Islamisten bombardieren, Terror zu verbreiten, warnen Fachleute.

Am Montagnachmittag werden alle U-Bahnstationen in der Fünf-Millionen-Stadt St. Petersburg für mehrere Stunden geräumt. Am Flughafen Pulkowo läuft zusätzliches Sicherheitspersonal auf. In der Vergangenheit hatte es mehrere Anschläge auf die U-Bahn in Moskau mit zahlreichen Toten gegeben. Die meisten wurden in Verbindung mit islamistischen Terroristen aus Tschetschenien gebracht. In der beliebten Touristenstadt St. Petersburg gab es bislang keine Anschläge.