Düsseldorf.

Als Hannelore Kraft im „Bergischen Löwen“ ankommt, ist ihr Schatten schon da. Das „Bürgerfrühstück“ im Veranstaltungszentrum von Bergisch Gladbach ist genau nach dem Geschmack der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin. Freundliche Rentner, die sich bei der Begrüßung gern den Unterarm tätscheln lassen. Jusos, die aufgeregt die Handykameras zücken. Junge Landtagskandidatinnen, die stolz „die Hannelore“ duzen. Gedränge und Geschiebe über den Linoleumboden. Von den tonfarbenen Wandkacheln hallt aufgekratzte Stimmung.

Doch als der Moderator in einer kleinen Gesprächsrunde freudig glucksend auf den „Schulz-Effekt“ zu sprechen kommt, wirkt Kraft plötzlich geschäftsmäßig: „Ich glaube gar nicht, dass das der Schulz-Effekt ist“, sagt sie zum Umfragen-Aufschwung der Sozialdemokraten. Die SPD als Bollwerk gegen Populisten und als Garant der sozialen Gerechtigkeit mit beitragsfreier Bildung – dieses Programm, das ja eine starke NRW-Handschrift trage, mache den Unterschied.

Schulz, Schulz, überall wartet Schulz. Wenige Tage später wird Landesverkehrsminister Michael Groschek, ein Vertrauter Krafts, noch deutlicher. In einem Interview mit den „Aachener Nachrichten“, der Heimatzeitung des neuen Parteivorsitzenden Martin Schulz, stellt er klar: „Hannelore Kraft braucht keinen Schulz-Effekt. Kraft braucht vor allem sich selbst.“

Es ist ein seltsames Gefühlschaos, das die Genossen an Rhein und Ruhr sechs Wochen vor der Landtagswahl durchmachen. Bis zum Jahresbeginn herrschte Trübsal in der NRW-SPD. Vom Wahltriumph 2012 mit 39,1 Prozent war in den Umfragen nicht mehr viel übrig geblieben. Das schlechte Abschneiden Nordrhein-Westfalens in vielen Bundesländer-Ranglisten, das blamable Nullwachstum 2015, die innenpolitischen Skandale von Misshandlungen im Flüchtlingsheim Burbach über die Kölner Silvesternacht bis hin zum Terror-Fall Amri – all das drückte die Stimmung. Die Zeitungen porträtierten Kraft plötzlich als dünnhäutige „Kümmerin a. D.“, die lustlos vor sich hinregierte. Man lag Kopf an Kopf mit der CDU des Herausforderers Armin Laschet knapp über der 30-Prozent-Marke. Eine Fortsetzung der rot-grünen Landesregierung sahen die Meinungsforscher schon seit zwei Jahren als höchst unwahrscheinlich an.

Dann kam Schulz. Die SPD schoss in NRW-Umfragen auf bis zu 40 Prozent. Kraft scheint nunmehr trotz schwächelnden Grünen nach dem Wahltag am 14. Mai zwischen großer Koalition, einer Neuauflage der sozialliberalen Ära oder Rot-Rot-Grün wählen zu können. Dennoch bleibt sie merkwürdig skeptisch. Umfragen seien „nicht einmal mehr Wasserstandsmeldungen“, murrt sie. In Düsseldorf wird geraunt, die Ministerpräsidentin fürchte ein „Saarland-Soufflé“: Umfragespitzenwerte, die an der Wahlurne in sich zusammenfallen. Einerseits.

Anderseits ist Krafts Verhältnis zu Schulz kompliziert. Man kennt sich, seit die heutige Ministerpräsidentin vor 15 Jahren als junge NRW-Europaministerin bei ihm in Brüssel vorsprach. Sie eint die Herkunft aus kleinen Verhältnissen und die Freude an der eigenen Aufsteigergeschichte. Kraft ist als Tochter eines Straßenbahners und einer Schaffnerin in Mülheim aufgewachsen und erzählt gern, wie sie sich ohne Hausaufgabenhilfe der bildungsfernen Eltern zu Abitur, Banklehre und Wirtschaftsstudium durchboxte. Kaum anders als Schulz mit seiner rheinischen Ch-Schwäche hat Kraft früh verstanden, dass ihr Ruhrpott-Tonfall in der Politik kein Makel ist, sondern als Ausdruck von Bodenständigkeit Sympathiepunkte verheißt.

Man könnte sagen: Die Rolle der sozialdemokratischen Herzdame mit viel Gefühl war in der NRW-SPD längst besetzt, bevor Schulz auf die Bühne trat. Kraft ließ ihre Vertrauten wohl auch deshalb lange Stimmung für eine Kanzlerkandidatur Sigmar Gabriels machen. Nun ist es anders gekommen, und ausgerechnet Kraft könnte ironischerweise im Mai vom „Schulz-Effekt“ profitieren. Nur soll es nicht so aussehen.

Lange galt es als unvorstellbar, dass Kraft auf äußere Effekte angewiesen sein könnte. Seit 2010 hatte sich die 55-Jährige tief in die Herzen der Nordrhein-Westfalen gekumpelt. Alles an der Regierungschefin wirkte so herrlich normal. Wie sie von ihren Spieleabenden mit der Mülheimer Nachbarschaft erzählte oder Ehemann Udo ihre Vereidigung im Landtag mit dem Familien-Camcorder filmte. Wie sie mit ihrer Glutenunverträglichkeit umging, im Mönchengladbacher Stadion „Die Elf vom Niederrhein“ besang und öffentlich vom Altwerden im Mehrgenerationshaus schwärmte. Dazu der emotionale Zugang zum Regieren, der an Johannes Rau erinnerte.

Die Kehrseite ist Krafts Fremdeln mit dem, was Politik auch ist: Abstraktionsvermögen, Strategien, taktische Winkelzüge, Härte gegen andere, das Spiel mit den Medien. Die Absage etwa, „nie, nie Kanzlerkandidatin“ werden zu wollen, hat ihr Ansehen seit 2013 auf Bundesebene gemindert. Unbedingte Loyalität, wie Kraft sie versteht, führt dazu, dass sie ihren dauerkriselnden Innenminister Ralf Jäger im Amt belässt. Dessen Rückzugsgefechte verhageln der SPD jede positive Botschaft.

Kraft will von alledem nichts hören. Sie vertraut auf ihren Amtsbonus. Und den Straßenwahlkampf. Das kann sie.