Berlin.

100 Prozent. Das hat es in der Geschichte der SPD seit dem Krieg nicht gegeben. Martin Schulz, der Mann aus Würselen, steht seit Sonntag an der Spitze der Sozialdemokraten, ausgestattet mit einem ungeheuren Vertrauensvotum. „Das ist ein überwältigender Moment für mich und für uns alle. Ich glaube, dass dieses Ergebnis der Auftakt zur Eroberung des Kanzleramtes ist“, bewertet ein sichtlich bewegter Schulz das Ergebnis eines im wahrsten Sinne außerordentlichen Parteitags in Berlin.

Man stolpert über den neuen Hoffnungsträger schon am Eingang der Berliner Arena. In Form einer Pappfigur, mit der man Selfies machen und sich ein Schild „Zeit für Martin“ umhängen kann. Pünktlich um halb zwölf kommt er dann: Begleitet vom Lied „Wie sehr wir leuchten“ schreitet er Seit’ an Seit’ mit dem zu diesem Zeitpunkt Noch-Vorsitzenden Sigmar Gabriel in den Saal. Ein Triumphmarsch unter tosendem Applaus der Delegierten und Gäste. „Der richtige Kandidat zur richtigen Zeit“, so eröffnet NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft das Parteitreffen. Kraft, der selbst im Mai eine Landtagswahl bevorsteht, stimmt die sich oft in Flügel-Streitigkeiten lähmende Partei ein: „Wir setzen den Schulz-Zug auf die Gleise, und die führen ins Bundeskanzleramt.“

Eine Politik mit Herz, nicht nur mit dem Kopf

Genau dafür haben sie ihn nun auf den Thron gehoben, ihren Hoffnungsträger. Den 61-Jährigen, der seit 1999 – also seit fast zwanzig Jahren – die Geschicke der Partei in Präsidium und Bundesvorstand mitbestimmt. Schulz, der seinen Aufstieg Eigenschaften verdankt, die ihm Freunde und Gegner gleichermaßen zuschreiben: Ehrgeiz, Arbeitseifer, klare Sprache, Machtbewusstsein. Vor allem als EU-Parlamentspräsident und als Spitzenkandidat der SPD bei der Europawahl 2014 schärfte er nicht nur sein eigenes Profil, sondern gab Europa eine starke Stimme. Er gilt als Politiker, der Streit nicht aus dem Weg geht – aber auch Brücken bauen kann.

„Die SPD ist wieder da. Wir sind wieder da“, beginnt er seine Bewerbungsrede für den Parteivorsitz und die Kanzlerkandidatur. Dies sei „eine gute Nachricht für Deutschland, Europa und die Demokratie“. Er sei „der Mann aus Würselen“, das fünfte Kind „einfacher und anständiger“ Leute. Er habe als junger Mann „nichts als Fußball im Kopf“ gehabt und zeitweise die Orientierung verloren. Aber er habe eine zweite Chance bekommen. Und nun trete er an, der deutsche Bundeskanzler zu werden.

Schulz skizziert im Groben, was die SPD auf ihrem Programmparteitag im Juni beschließen will. Eine gebühren­freie Bildung von der Kita bis zum Studium, einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz, Investitionen in Schulen, die Lohngerechtigkeit von Mann und Frau. Er erwähnt die Bedeutung von kleinen Städten, thematisiert die Stärkung von Polizei und Rettungskräften, die den Bürgern wichtig seien. Konkrete Finanzierungskonzepte für die Vorhaben bleibt er schuldig.

Der SPD-Politiker verurteilt die Radikalisierung junger Muslime im Land. Wer die Gleichberechtigung von Mann und Frau aus religiösen Gründen in Zweifel ziehe, „der hat in diesem Lande nichts verloren“, sagt er klar. Er bietet Rechtspopulisten die Stirn, wirbt für die Pressefreiheit. Und findet harte Worte für US-Präsident Donald Trump: „Wer die freie Berichterstattung als Lügenpresse bezeichnet, wer selektiv mit den Medien umgeht, legt die Axt an die Wurzeln der Demokratie.“ Dabei sei es egal, ob derjenige „Präsident der Vereinigten Staaten ist oder ob er in einer Pegida-Demonstration mitläuft“. Emotional wird er beim Thema Europa. Er werde die Gegner Europas mit ganzer Kraft bekämpfen, ebenso die AfD. Diese sei keine Alternative für Deutschland, sondern „eine Schande für die Bundesrepublik“.

Schaut man in die Gesichter der 600 SPD-Delegierten in der übervollen Halle, erkennt man in vielen eine schon abhanden geglaubte Begeisterung, ein Glühen. Schulz verkörpert, was die SPD nach den Jahren der unionsdominierten Bundesregierungen ausstrahlen will: eine Politik mit Herz, nicht nur mit dem Kopf.

Bei aller Schulz-Euphorie symbolisiert der Parteitag aber auch das Ende einer Ära: Sigmar Gabriel, am längsten Vorsitzender seit Willy Brandt, zieht sich in die zweite Reihe zurück. Die Partei und die Wähler haben ihn akzeptiert, im besten Falle respektiert. Geliebt haben sie ihn nie. Der Heißsporn Gabriel, mittlerweile Deutschlands oberster Diplomat, konnte immer gut austeilen; doch er musste von seiner Partei auch viel einstecken. Sein letztes Ergebnis bei der Wahl zum Vorsitzenden im Dezember 2015 – 74 Prozent – war eine Klatsche, von der er sich nur schwer erholt hat.

Gabriel selbst beschreibt in einer langen, kämpferischen Rede seinen Rückzug vom „tollsten Amt in der Politik“ als den „fröhlichsten und optimistischsten Übergang, den die Partei in den letzten Jahrzehnten erlebt hat“. „Kein Grund für Melancholie“, sondern „Aufbruch“ will er vermitteln und mahnt seine Genossen, für ein besseres Land zu streiten.

Ob er, der sich selbst in die zweite Reihe dirigiert hat, etwas wehmütig auf den Erfolg von Schulz blickt? Das weiß nur er selbst. Aber er darf, so der Tenor der Parteitagsredner, für sich in Anspruch nehmen, den Weg frei gemacht und das Bild des egoistischen Politikers widerlegt zu haben. Als „große menschliche Leistung“ würdigt das Schulz.

Gabriels Verzicht hat sich jedenfalls ausgezahlt. Bei der SPD sind seit der Kanzlerkandidatur von Schulz rund 13.000 neue Mitglieder eingetreten, davon 40 Prozent jünger als 35 Jahre. So hat die SPD nun rund 440.000 Mitglieder und ist vor der CDU die größte Partei im Land. Was folgt daraus? Der Weg ist trotzdem lang für die Sozialdemokraten, eine erste Prüfung steht am kommenden Sonntag im Saarland bevor. Aber vielleicht kann der passionierte Tagebuchschreiber Schulz, der seit dreißig Jahren abends seine Gedanken notiert, am 24. September 2017 hinzufügen: Heute zum 4. sozialdemokratischen Bundeskanzler gewählt worden. Am Sonntag jedenfalls kann der Eintrag lauten: 100 Prozent. Vorsitzender. Kanzlerkandidat.