Brüssel/Berlin.

Religion ist Privatsache. Eigentlich. Aber was, wenn zum Beispiel eine Muslimin mit Kopftuch im Büro erscheint? Nach zwei gestern verkündeten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) können Firmen bei der Arbeit unter bestimmten Bedingungen das Tragen von Kopftüchern untersagen (Rechtssachen C-157/15 und C-188/15). Aber das Verbot ist an strikte Kriterien gebunden.

Die Beschwerden von Kunden reichen nicht für ein Verbot

Fall 1: Asma Bougnaoui hatte von 2008 an als Projektingenieurin für ein IT-Unternehmen in Frankreich gearbeitet. Sie trug dabei einen Hidschab, der Haar und Nacken bedeckt, aber das Gesicht freilässt. Zu den Aufgaben der Ingenieurin gehörten Kundenbesuche. Bei einem dieser Besuche beschwerte sich eine Firma über die Bekleidung. Wegen ihrer Weigerung, den Hidschab abzulegen, wurde die Frau 2009 entlassen.

Der EuGH kam zu dem Ergebnis, dass der Wille des Arbeitgebers, derartigen Kundenwünschen zu entsprechen, „nicht als eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ im Sinne des EU-Rechts angesehen werden könne. Dies allein würde eine Kündigung nicht rechtfertigen.

Fall 2: Samira Achbita war bei einem Unternehmen für Sicherheits- und Rezeptionsdienste in Belgien beschäftigt. Sie hatte bereits drei Jahre dort gearbeitet. Im April 2006 kündigte sie an, sie werde ihr Kopftuch künftig auch während der Arbeitszeit tragen, statt wie bisher nur in der Freizeit. Wenig später wurde die Frau mit einer Abfindung vor die Tür gesetzt. Die Firma berief sich dabei auf eine Betriebsvorschrift, wonach das Tragen sichtbarer religiöser, politischer und philosophischer Zeichen bei der Arbeit generell verboten sei.

Hier erklärten die Richter nun, dass eine solche firmeninterne Regelung unter Umständen rechtens sei, wenn sie der „Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und religiösen Neutralität“ diene. Sie verwiesen dabei auf die unternehmerische Freiheit. Dies gebe Firmen das Recht, ihren Kunden das Bild der Neutralität in Fragen der Weltanschauung und Religion zu vermitteln.

Die Luxemburger Richter knüpften die Möglichkeit eines Kopftuchverbots an ganz bestimmte Bedingungen. Das Verbot darf nicht individuell ausgesprochen werden – das wäre direkte Diskriminierung. Es muss in einer Firmenregelung festgehalten werden, dass das Verbot nicht für eine bestimmte Religion gilt, sondern alle weltanschaulichen und religiösen Zeichen umfasst. Also die Kippa jüdischer Männer genauso wie den Turban männlicher Sikhs oder das Kopftuch muslimischer Frauen.

Der EuGH gibt weiter zu bedenken: Wenn eine Arbeitnehmerin mit Kopftuch bislang im Kundendienst eingesetzt war, so wäre zu überlegen, ob sie im Unternehmen an einen Ort ohne Kundenkontakt arbeiten könne.

Die Urteile der Luxemburger Richter geben nationalen Gerichten die Richtung vor. Wenn sich bei Klagen vor deutschen Gerichten die gleichen Rechtsfragen stellen wie nun vor dem EuGH, dann müssen die Richter sich an die Luxemburger Auslegung halten.

In Deutschland sind die Vorgaben bislang vergleichsweise liberal. Arbeitgeber können muslimischen Arbeitnehmerinnen im Allgemeinen nicht verbieten, während der Arbeit aus Glaubensgründen ein Kopftuch zu tragen. Zwar ist es ihnen erlaubt, im Rahmen ihres Direktions- und Weisungsrechts Bekleidungsregeln aufzustellen. Diese müssen aber angemessen und für die Arbeitnehmer zumutbar sein, die Glaubensfreiheit muss ausreichend berücksichtigt werden.

Die Religionsfreiheit ist hierzulande ein hohes Gut. „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“, heißt es in Artikel 4 des Grundgesetzes. Auch nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz darf im Arbeitsleben niemand aus Gründen der Religion benachteiligt werden. Dies lässt sich an einer Reihe von Urteilen ablesen. So entschied das Bundesarbeitsgericht 2002, einer Kaufhausverkäuferin habe wegen Tragens eines islamischen Kopftuchs nicht gekündigt werden dürfen. Auch Lehrer können sich in Schulräumen grundsätzlich auf die Religionsfreiheit berufen. So schränkte das Bundesverfassungsgericht 2015 ein bis dahin in einigen Bundesländern geltendes pauschales Kopftuchverbot für Lehrkräfte ein.

Es sei nur dann gerechtfertigt, wenn durch das Tragen eine „hinreichend konkrete Gefahr“ für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität ausgeht. Generell wird das Tragen eines Kopftuchs nicht als Belästigung angesehen. Karlsruhe bekräftigte 2016 in einem Fall um eine muslimische Erzieherin aus Baden-Württemberg, es gebe keinen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, „von der Wahrnehmung anderer religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse verschont zu bleiben“.

Kritiker in Deutschland warnen Unternehmen vor einer zu strengen Handhabung des Kopftuchverbots. Dies könne muslimischen Frauen den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren, sagte die Antidiskriminierungs-Beauftragte des Bundes, Christine Lüders. „Die Arbeitgeber in Deutschland sollten sich in Zukunft gut überlegen, ob sie sich durch Kopftuchverbote in ihrer Personalauswahl einschränken wollen“, kommentierte Lüders die EuGH-Urteile. Dadurch könne es für Musliminnen noch schwerer werden, einen Job zu finden. Arbeitgeber würden mit einem solchen Verbot gut qualifizierte Beschäftigte ausgrenzen.