Kiew. Bei seiner Ukraine-Reise gibt sich der Außenminister vorsichtig – auch weil er nächste Woche nach Russland fliegt

Es gibt Tage, da wird Sigmar Gabriel klar, dass Diplomatie ein verdammt hartes Geschäft ist. Ein Geschäft, bei dem der Fortschritt in Millimetern bemessen wird und Stillstand als Normalfall gilt. Der Tag in Kiew ist so ein Tag.

Der Außenminister steht mit seinem ukrainischen Amtskollegen Pawel Klimkin an einem Rednerpult in der Diplomatischen Akademie. Der Presseraum mit den 20 Meter hohen Stuckdecken und den langen blassgelben Vorhängen ist so groß, dass die beiden Politiker vom Eingang aus wie Stecknadelköpfe aussehen. „Wir müssen unsere Anstrengungen erhöhen, dass Russland gezwungen wird, die Minsker Vereinbarungen zu erfüllen“, betont Klimkin. Kompromiss? Fehlanzeige. „Moskau betreibt in der Ostukraine eine bewusste Eskalation. Erst muss das Schießen dort aufhören.“ Ende der Durchsage. Gabriel steht mit versteinertem Gesichtsausdruck daneben.

Im Minsker Abkommen, auf das sich die ukrainische Regierung und die Separatisten in der Ostukraine 2015 geeinigt haben, sind wichtige Schritte klar geregelt: Waffenruhe, Abzug schwerer Waffen, Wahlen in den abtrünnigen Regionen, Autonomie für die Aufständischen. Die beiden ersten Punkte fordert Kiew, die beiden letzten verlangen die Rebellen.

In der Ostukraine sind die Kämpfe wieder aufgeflammt

Doch die Chancen für eine Umsetzung stehen schlecht. Gabriel weiß, dass sich beide Seiten hinter ihren Maximal-Positionen verschanzen. Deshalb hält er sich zurück. Er sucht den minimalen Manövrier-Spielraum. Der ist äußerst gering. Zumal sowohl Kiew als auch Moskau gespannt abwarten, wie sich die neue US-Regierung verhält. „Wir sollten uns bemühen, wenigstens einen Waffenstillstand und eine Entflechtung der Kräfte zu erreichen“, betont Gabriel in der Diplomatischen Akademie.

Am Freitag, beim Gespräch mit den Fraktionschefs im ukrainischen Parlament, redet der Außenminister für einen Moment Klartext. „Wir wissen, wer der Aggressor ist“, sagt er, ohne Russland, das die Rebellen im Osten mit Geld und Waffen unterstützt, beim Namen zu nennen. Gleichzeitig mahnt er die Regierung in Kiew, mehr zur Bekämpfung der Korruption zu tun. Deutschland wolle helfen. „Aber wir wollen sicher sein, dass das Geld bei den Menschen ankommt.“

Dieser ausgewogene Zungenschlag ist bei Gabriel neu. Er steht für den komplizierten Balanceakt, den der Außenminister derzeit zwischen Kiew und Moskau vollzieht. Die Tonlage des Bundeswirtschaftsministers Gabriel war eine andere. Am Rande des zweiten Russlandtages in Rostock im Mai vergangenen Jahres hatte er sich für einen schrittweisen Abbau der Strafmaßnahmen gegen Moskau starkgemacht, sollten im Gegenzug einzelne Punkte des Minsker Abkommens erfüllt werden. Er kritisierte die Leitlinie der Europäischen Union, „erst 100 Prozent Minsk, und dann gibt es 100 Prozent Aufhebung der Sanktionen“. Es war die Zeit, als der Vorwurf des „Putin-Verstehers“ Gabriel die Runde machte.

Heute befindet sich der Außenminister in einem Dilemma. Er ist sich bewusst, dass die ukrainische Regierung im Parlament Wahlen und Autonomie in der Ostukraine nicht durchbekommt – der innenpolitische Widerstand ist zu groß. Aber auch Moskau baut Spannung auf. Vor den Grenzen der drei baltischen Staaten werden drei zusätzliche Divisionen mit rund 60.000 Mann zusammengezogen. Und in der Ostukraine sind die Kämpfe in den vergangenen Wochen wieder aufgeflammt.

Keiner weiß das besser als Alexander Hug, stellvertretender Leiter der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine. Im Konferenzraum des OSZE-Hauptquartiers in Kiew hängt eine Karte mit fünf roten Kreisen. Sie stehen für die Brennpunkte entlang der knapp 500 Kilometer langen Kontaktlinie, die durch das heiß umkämpfte Gebiet der Separatisten verläuft. In den letzten 24 Stunden habe es mehr als 1600 Explosionen gegeben, sagt er. Ein Einschlag durch eine Mörsergranate könne dafür sorgen, dass in einer Kleinstadt die Lichter ausgingen. Dabei gebe es zwei einfache Maßnahmen, um die Lage zu entspannen: Entzerrung der Kampfparteien und Abzug der schweren Waffen jeweils 15 Kilometer hinter die Frontlinie. „Aber dafür fehlt offensichtlich der politische Wille“, klagt Hug.

Das bekommt Gabriel auch in Kiew zu spüren. Im Baltikum, das er kurz zuvor besucht hatte, hatte er klarer Position bezogen. Am Nordostzipfel von EU und Nato, wo die Sorge vor einer Invasion Russlands weitverbreitet ist, hatte er die „völkerrechtswidrige Annexion“ der Krim öffentlich gerügt.

Der diplomatische Samthandschuh, den Gabriel in Kiew auspackt, mag auch an den kommenden Reiseplänen liegen. Am Donnerstag fliegt er nach Russland. In Moskau trifft er auf Außenminister Sergej Lawrow, der den Ruf eines hartgesottenen Polit-Profis und ausgebufften Verhandlers hat. Manche, die mit ihm zu tun hatten, halten ihn auch für einen grenzenlosen Zyniker. Ein Gespräch mit Präsident Wladimir Putin soll es ebenfalls geben. Die Entschärfung der Krise in der Ostukraine wird ein Marathonlauf – das weiß Gabriel schon heute. Jeder Millimeter ist ein Fortschritt.