Singapur. Malaysische Experten finden Spuren der Substanz VX an Kim Jong-nams Leichnam. Pjöngjangs Diplomaten wollten Obduktion verhindern

Die Mörder und ihre Auftraggeber wollten auf Nummer sicher gehen. Kim Jong-nam, der Halbbruder von Nordkoreas Diktator Kim Jong-un, kam durch die schlimmste chemische Vernichtungswaffe zu Tode, die es gibt. „Die chemische Substanz im Auge und auf dem Gesicht wurde als O-Ethyl-S-2-Diisopropylaminoethylmethylphosphonothiolat oder ‚VX-Nervengas‘ identifiziert“, erklärte Malaysias Polizeichef am Freitag in einer Stellungnahme. Es ist das tagelang erwartete Resultat der Analysen in einem chemischen Labor. Damit kommt auch Licht in den bislang rätselhaften Tathergang vor gut zwei Wochen am Flughafen der Hauptstadt Kuala Lumpur.

Die verheerenden Folgen des VX-Gases kennt die Welt spätestens seitdem der frühere irakische Diktator Saddam Hussein das mörderische Gift 1988 im Krieg gegen die Kurden im Norden seines Landes eingesetzt haben soll. Das Gift besteht aus zwei Komponenten, die getrennt gefahrlos transportiert werden können. Die Vietnamesin und die Indonesierin, die über das Opfer in der Nähe des Schalters der Billigfluglinie AirAsia hergefallen sein sollen, hatten ihre Hände offenbar kurz vor der Tat mit den gelblichen, geruchs- und geschmacklosen Substanzen eingerieben. Erst im Gesicht Kim Jong-nams wurden sie mit tödlicher Wirkung gemischt.

Er klagte kurz nach der Tat über Brennen und starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Seine letzten Worte: „Schmerzen, Schmerzen.“ Zehn Milligramm des Gifts auf der Haut reichen laut Beschreibungen, um im menschlichen Nervensystem einen Zusammenbruch auszulösen. Die japanische Aum-Sekte, die bei einem Anschlag auf Tokios U-Bahn das Nervengift Sarin einsetzte, soll das 100-mal stärkere VX bei Mordversuchen mit Injektionen benutzt haben. Mindestens ein Opfer starb. Gegenmittel wirken nur, wenn sie unmittelbar nach einem Kontakt mit VX zum Einsatz kommen.

Das Massenvernichtungsmittel ist laut der Konvention gegen Chemiewaffen von 1997 verboten. Russland und die USA hatten zugegeben, dass sie VX-Vorräte besaßen. Nordkorea, das selbst jeden Besitz von Chemiewaffen bestreitet, die Konvention aber nicht unterzeichnet hat, soll Experten zufolge rund 2000 bis 2500 Tonnen Chemiewaffenvorräte besitzen – darunter auch VX.

Pjöngjang hatte Malaysia im Zuge der Untersuchungen zu dem Mordfall vorgeworfen, sich zum Büttel „feindlicher Mächte“ zu machen, nachdem sich die Regierung in Kuala Lumpur weigerte, die Leiche des Mordopfers ohne Obduktion an Nordkorea zu übergeben. Seither ereigneten sich seltsame Dinge in der Hauptstadt des südostasiatischen Landes. Unbekannte versuchten, in die Leichenhalle des Krankenhauses einzudringen, in dem das Opfer aufbewahrt wird. Darum bewacht nun eine Spezialeinheit der Polizei das Gebäude. Ein diskretes Büro von Pjöngjangs staatlicher Fluglinie Air Koryo löste sich plötzlich im Nichts auf, nachdem Malaysias Polizei einen Mitarbeiter verhören wollte.

Nordkoreas Botschafter Kang Chol versuchte in stundenlangen Diskussionen, Malaysias Behörden zu einer gemeinsamen Obduktion zu überreden. Der Diplomat kämpfte nicht nur für sein Land, sondern möglicherweise auch ums eigene Überleben.

Malaysia hatte bislang gute Beziehungen zu Nordkorea

Inzwischen sucht Kuala Lumpur per Interpol nach vier Nordkoreanern, die den Giftmord auf dem Flughafen beobachtet haben sollen und sich anschließend schleunigst mit einer Air-Koryo-Maschine in die Heimat absetzten. Sie sollen die beiden Frauen, die der Tat verdächtigt werden, vorher trainiert haben. Malaysias Polizei ist fest davon überzeugt, dass die jungen Frauen, die in der Vergnügungsindustrie arbeiten, in die Mordpläne eingeweiht waren.

Nach der Tat seien beide zur Flughafentoilette geeilt, um sich die Hände zu säubern – danach ergriffen sie den Angaben zufolge die Flucht. Eine trug wie zum Hohn einen Pulli mit der Aufschrift „LOL“, kurz für „Laughing out Loud“ – „lautes Lachen“.

Malaysia war bislang eines der wenigen Länder, in denen Nordkoreaner kein Visum für die Einreise benötigten. Doch die Freundschaft neigt sich nun dem Ende zu. Kuala Lumpur wollte den stellvertretenden Leiter von Pjöngjangs Botschaft vernehmen – und handelte sich mit Verweis auf die diplomatische Immunität einen Korb ein. Nordkorea beschuldigte Malaysia am Freitag, die Mordvorwürfe zu erfinden. Der angebliche Tathergang sei „voller Löcher“.

Diese Löcher sind nach der Identifizierung von VX als Mordwaffe weitgehend gestopft. An eine Drohung wird Malaysia sich freilich erinnern. In der wütenden Stellungnahme Pjöngjangs vom Freitag weist Nordkorea darauf hin, dass man ein Atomstaat sei. Noch braucht Malaysia sich nicht vor nuklearer Vergeltung für die Aufklärung des Giftmords zu fürchten – Pjöngjangs Raketen reichen nicht bis nach Kuala Lumpur. Die langen Arme von Pjöngjangs Killeragenten aber schon.