Würzburg.

Das Foto stand im Leben von Anas M. für so viel Gutes. Für sein Glück. Der Syrer schoss ein Handy-Selfie mit der Kanzlerin, als diese gerade das Flüchtlingsheim in Spandau besuchte. Anas M. hatte die Flucht bis nach Europa überlebt. Angela Merkel war jetzt auch „seine Kanzlerin“. Und Deutschland das Land, das ihn willkommen hieß. Ihn schützt vor Krieg und Terror in seiner Heimat. Das Foto stand nicht nur für M. – es war das Bild eines Landes, das Menschen wie ihn willkommen hieß auf dem Höhepunkt der Fluchtkrise. Das alles steckte in diesem Foto. Es war September 2015.

Das Foto ist jetzt der Grund für die Angst, die Anas M. hat, wenn er in Deutschland über die Straße geht. Wenn er seinen Namen im Internet sieht. Es ist dieses Foto, weshalb Anas M. jetzt vor Gericht gezogen ist.

Er sitzt an diesem Montag im Gerichtssaal 017 am Landgericht Würzburg und sagt gar nichts. Keine Regung in seinem Gesicht. Später wird er auf die Frage, wie viel er verstanden hat von diesem Gerichtsverfahren, sagen: „60 Prozent“. Dabei streiten um ihn herum leidenschaftlich sein Anwalt mit den Anwälten von Facebook – um seine Ehre. Denn die steht auf dem Spiel, jeden Tag an dem die Meldungen in dem sozialen Netzwerk weiter verbreitet werden, die behaupten, dass es Anas M. war, der in Ansbach zum Terroristen wurde, oder in Würzburg oder in Berlin. Und daneben immer dieses Foto vom September 2015. Er und die Kanzlerin.

Diese Meldungen gibt es, aber sie sind ausgedacht. Sie sollen Flüchtlinge und Merkels Politik diffamieren. Es gab Menschen, die behaupteten, Anas M. sei schuld an Attentaten. Mit Lügen schüren sie Hass. Der Syrer kam gegen die Hunderten von Falschbehauptungen nicht an. Als Migranten im Dezember einen Obdachlosen in einer Berliner U-Bahn-Station anzünden, gibt es wieder das Foto mit dem Text: „Merkel machte 2015 Selfie mit einem der Täter.“

Es geht um die Ehre von Anas M. Und um einen Grundsatz in der digitalen Welt: In welchem Ausmaß muss Facebook selbst tätig werden, um falsche Inhalte von seiner Plattform zu tilgen? Die Bilder, die M. neben Terroristen zeigen, wurden hundertfach geteilt. Facebook entfernte die Ausgangsbeiträge. M. will erreichen, dass Facebook von sich aus auch alle Einträge, die den rechtswidrigen Inhalt teilen, finden und löschen muss. Facebook will sie nur „blockieren“. Für mehr fühlt sich das soziale Netzwerk, das von Anwälten vertreten wird, nicht zuständig. Bekämen M. und sein Anwalt Recht, würde eine einstweilige Verfügung den Konzern empfindlich treffen. Der Aufwand des Löschens wäre groß, die Folgen schwer absehbar.

Und das Gericht? Der Richter Volkmar Seidel muss irgendwann zugeben: „Wir haben den Nachteil, dass wir es hier mit einer Kammer zu tun haben, die komplett nicht bei Facebook ist.“ Sogar der Facebook-Anwalt murmelt: „Ich bin geneigt zu sagen: Schade.“

Dabei geht es genau um diese Frage. Was muss Facebook selbst gegen Hass und Lügen auf seinen Seiten tun? Es geht in Würzburg um die großen Themen dieser Zeit: Das Recht am eigenen Bild, die Flüchtlingskrise, Facebooks Macht, Falschmeldungen im Internet. Anas M. hat viel auf seine Schultern geladen.

Streitpunkt sind vor allem die Gemeinschaftsstandards

Der Anwalt von M., Chan-Jo Jun, argumentiert zu Beginn der Verhandlung, seine Mitarbeiter hätten mehrfach die Probe gemacht. „Wir haben mehrere Facebook-Einträge, in denen M. zu Unrecht verunglimpft wurde, als Falschmeldungen bei dem sozialen Netzwerk gemeldet“, sagt er. Facebook meldete sich und entschied mit Ausnahme von einem der mehr als 40 Fälle: Die Beiträge verstoßen nicht gegen die sogenannten Gemeinschaftsstandards. Erst als sich Jun per Mail als Anwalt von M. zu erkennen gab, entfernte das Netzwerk die Beiträge. Die Facebook-Anwälte sagten: löschen. Jun kontert sofort: „Nein, sie sind nachweislich noch heute online und abrufbar, gelöscht sind sie nicht.“

Anwalt Jun kann nicht verstehen, warum sich Facebook gegen die Komplettlöschung wehrt. Die Anwälte legten dar, dass sie so einen Präzedenzfall verhindern wollen. Dann könnten immer wieder Menschen das Löschen von illegalen Inhalten verlangen. Doch wie solle das bei rund einer Milliarde Posts täglich erreicht werden? Facebook behauptet, man habe nicht die technischen Möglichkeiten, solche Posts automatisch zu entdecken. Jun kontert, der Internet-Riese sei sehr wohl bereits so weit. Etwa im Kampf gegen Kinderpornografie.

Die nächste Frage war: Macht sich ein Nutzer strafbar, wenn er etwa eine gefälschte Fotomontage auf seiner
Profil-Seite teilt. Bislang ist das Recht nicht eindeutig. Das Oberlandesgericht Frankfurt hatte 2011 entschieden, dass man sich einen Beitrag nicht „zu eigen macht“, wenn man ihn auf Facebook verbreitet. Das Gericht hatte einen Unterschied zum Klicken auf „Gefällt mir“ unter einem Post gesehen. Der Richter in Würzburg will sich nicht festlegen.

Schon vor dem Prozess ist Jun nicht müde geworden, dieses Verfahren so hoch wie möglich anzusiedeln. „Facebook entscheidet willkürlich“, sagt Jun, „welche Seiten online bleiben und welche nicht.“ Die Gemeinschaftsstandards seien eben kein transparentes Dokument, sagte er. „Einerseits verbietet Facebook Nacktheit, aber Hassmeldungen können bestehen bleiben.“

In vier Wochen, am 7. März, will der Richter die Entscheidung verkünden. „Wir erlassen einstweilige Verfügungen nur dann, wenn uns alles hundertprozentig plausibel erscheint“, sagte er. Auf Vorschlag des Gerichts wollen die Anwälte des Netzwerks bis dahin prüfen, ob die 40 Bilder und alle künftig vom Kläger gemeldeten Beiträge europaweit gelöscht werden.

Es geht nur um ein Selfie, so wie es Millionen Menschen jeden Tag machen. Aber es geht auch um so viel mehr. Als der Gerichtssaal 017 fast leer ist, stellt sich Anas M. noch einmal vor seine Anwälte, hebt sein Handy und macht tatsächlich – ein Selfie.