Ankara.

Seit dem Putschversuch vom Juli 2016 ist nichts mehr Routine im deutsch-türkischen Verhältnis. Das zeigte sich auch beim Kurzbesuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in Ankara am Donnerstag. Am Vormittag traf Merkel zunächst mit Staatschef Recep Tayyip Erdogan zusammen, danach stand eine Begegnung mit Ministerpräsident Binali Yildrim auf dem Programm. Die wichtigsten Themen der Gespräche waren die Flüchtlingspolitik, die Entwicklung im Syrienkrieg und der Kampf gegen den Terror. Aber auch die innenpolitische Entwicklung in der Türkei kam zur Sprache.

Es war der erste Besuch Merkels in der Türkei seit dem gescheiterten Putschversuch, der sich immer mehr als der tiefste Einschnitt in der jüngeren Geschichte des Landes erweist – auch weil er Erdogan den Vorwand lieferte, mit noch größerer Härte gegen seine Kritiker vorzugehen und seine Pläne für ein Präsidialsystem voranzutreiben. Die Kanzlerin mahnte im Gespräch mit Erdogan die Einhaltung von Freiheitsrechten an. Es sei wichtig, dass bei der Aufarbeitung des Putschversuchs die Meinungsfreiheit beachtet und die Gewaltenteilung gewahrt würden, sagte Merkel nach dem zweieinhalbstündigen Treffen. „Opposition gehört zur Demokratie dazu“, unterstrich die Kanzlerin. Sie habe mit dem türkischen Präsidenten auch erörtert, dass bei der für Anfang April geplanten Volksabstimmung über die Verfassungsänderung Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) eingesetzt werden könnten. Erdogan verteidigte seine Pläne für ein Präsidialsystem. Von einer Aufhebung der Gewaltenteilung könne keine Rede sein.

An kontroversen Themen gab es keinen Mangel während dieses Besuchs. Der fragile Flüchtlingspakt, den die EU im März 2016 unter maßgeblichem Einsatz Merkels mit der Türkei ausgehandelt hatte, hat sich zwar aus europäischer Sicht bewährt. Der Flüchtlingsstrom aus der Türkei zu den griechischen Inseln ist deutlich zurückgegangen. Aber immer wieder kommen aus Ankara Drohungen, das Abkommen aufzukündigen. Die Türkei wirft der EU vor, sie halte versprochene Finanzhilfen für die Versorgung syrischer Flüchtlinge zurück. Auch die Kontroverse um die versprochene Visumfreiheit steht weiter im Raum. Die EU fordert eine Entschärfung der türkischen Anti-Terror-Gesetze, was Ankara aber mit Hinweis auf die Sicherheitslage ablehnt.

Neuer Konfliktstoff ist seit dem Putschversuch hinzugekommen. Die willkürlich wirkenden „Säuberungen“, mit denen Staatschef Erdogan seither gegen mutmaßliche Anhänger seines Erzfeindes Fethullah Gülen, aber auch gegen Menschenrechtler, kritische Journalisten und kurdische Politiker vorgeht, stoßen in Berlin auf Kritik. Dazu kommen offene Fragen zur Rolle des aus der Türkei gesteuerten Islamverbandes Ditib bei der Ausspähung von Erdogan-Kritikern in Deutschland. Merkel warnte nach dem Treffen mit Erdogan, der deutsche Rechtsstaat werde gegen Bespitzelungen vorgehen.

Derweil sorgen türkische Forderungen nach Auslieferung geflüchteter Diplomaten und Soldaten für zusätzliche Spannungen. Etwa 40 Botschaftsmitarbeiter und ranghohe türkische Nato-Offiziere suchen aus Angst vor Verfolgung in ihrer Heimat in Deutschland Asyl. Der türkischen Vizepremiers Veysi Kaynak beschuldigte Deutschland, es empfange „jede Art von Terroristen, die in der Türkei eine Plage sind, mit offenen Armen“. Schon Erdogan hatte kürzlich den Vorwurf erhoben, Deutschland sei „ein sicherer Hafen für Terroristen“. Solche Anwürfe zeigen: Die Kanzlerin bewegte sich bei ihrem Türkeibesuch in einer Art politischem Minenfeld. Erdogan kann allerdings nicht daran gelegen sein, die Spannungen auf die Spitze zu treiben. Wirtschaftlich geht sein Land durch schwere Turbulenzen: Investoren und Anleger ziehen sich zurück.

Opposition hatten den Zeitpunkt der Reise kritisiert

Der zunehmend autoritäre Kurs des Staatschefs alarmiert nicht nur die Opposition, die das Land auf dem Weg in eine Diktatur sieht. Auch die Wirtschaft ist verunsichert. Man sorgt sich um die Rechtssicherheit. Hinzu kommt die Bedrohung durch den Terror. Eine Welle von Anschlägen hat der Tourismuswirtschaft im vergangenen Jahr ein Minus von rund 30 Prozent beschert.

Die EU ist der mit Abstand wichtigste Absatzmarkt für die türkischen Exporteure. Eine besonders wichtige Rolle spielen die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland. Rund 6700 deutsche Unternehmen sind in der Türkei tätig. In der Flüchtlingspolitik mag die EU auf die Türkei angewiesen sein, in der Wirtschaftspolitik braucht dagegen die Türkei Europa – und insbesondere Deutschland.

Türkische Oppositionspolitiker hatten den Zeitpunkt der Merkel-Reise kritisiert und die Befürchtung geäußert, Erdogan werde den Besuch der Kanzlerin als internationale Unterstützung im Wahlkampf für das bevorstehende Verfassungsreferendum ausschlachten. Um dem vorzubeugen und sich aus erster Hand über die Lage der Opposition zu informieren, hat Merkel am Donnerstagabend nach dem Ende des offiziellen Besuchsprogramms Vertreter der beiden größten Oppositionsparteien, der Mitte-Links-Partei CHP und der prokurdischen HDP, getroffen. Einige Oppositionelle wären wohl besonders gern zu dem Gespräch mit Merkel gekommen, waren aber verhindert: Elf Abgeordnete der HDP sitzen wegen angeblicher „Terrorpropaganda“ in Untersuchungshaft.